Wahrheit zwischen Schwarz und Weiß
In einem jahrzehntelangen, uns allen nicht fremden Klima der Begrenzung und Beengung hat Evelyn Richter fotografische Kunstwerke geschaffen, die einmalige, unverwechselbare Zeugnisse dieser Zeit sind, einer Zeit, die trotz alledem – oder gerade deshalb – große Persönlichkeiten und lebensbejahende Höhepunkte hervorgebracht hat. Eine dieser Persönlichkeiten ist Evelyn Richter, eine der bedeutenden Vertreterinnen der sozialdokumentarisch geprägten Fotografie in der ehemaligen DDR. Am 18. März dieses Jahres ist Evelyn Richter Kunstpreisträgerin unserer Stadt geworden. Der Elbhangfest-Verein hatte sie dafür vorgeschlagen.
Seit 1991 ist Evelyn Richter Professorin für Fotografie. Bis zu dieser späten Anerkennung war es ein langer, weiter, oftmals steiniger Weg: 1930 in Bautzen geboren, lebt Evelyn Richter, die ihre sächsische Heimat nie hat verlassen wollen oder müssen, heute in Neukirch in der Lausitz und in Dresden.
Als junges Mädchen, das eigentlich das Goldschmiedehandwerk erlernen wollte, war ihr vom Vater geraten worden (oder wie auch immer diese Empfehlung genannt werden soll – jedenfalls hatte man sich danach zu richten!), in den schweren Zeiten etwas Praktisches zu lernen. Und so fiel es der 18-Jährigen nicht schwer, sich nach einem Besuch des Ateliers von Pan und Christine Walther an der Dresdner Calberlastraße spontan für die Fotografie zu entscheiden. (Das war eine Entscheidung innerhalb von fünf Minuten, meint sie selbst.) Ihre Ausbildung in der Tradition der Dresdner Kunstfotografie eines Hugo Erfurth rundete sie dann bei Franz Fiedler ab.
Für die technische Seite der Fotografie habe sie sich nie wirklich interessiert, sagt Evelyn Richter heute etwas kokett, obwohl man ihr das nicht unwidersprochen abnehmen will; denn 1952/53, angestellt als Fotografin an der Technischen Hochschule in Dresden, machte sie die Erfahrung, dass rein technische Motive wie etwa bildmäßig festgehaltene Untersuchungsergebnisse der Werkstoffprüfung eine eigene ästhetische Welt darstellen – wenn man nur den Blick dafür hat.
1953 bis 1955 absolvierte sie ein Studium der Fotografie an der Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig, um dann mit Theaterfotografie, Industriereportagen und Messegestaltung ihren Lebensunterhalt als Freiberuflerin zu verdienen. Diese Art der Lebensführung – unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus eher die Ausnahme und folglich ein Ziel ausgedehnter Bespitzelung seitens der Obrigkeit – kostete die Künstlerin viel Kraft, denn die Fotografie als künstlerische Gattung genoss in der ehemaligen DDR eine untergeordnete Bedeutung. Aber gerade diese Art der Lebensführung gab ihr aber auch im Widerstand „gegen den Beton” viel Kraft zurück, die sie umsetzte in fotografische Dokumente, die keiner, der diese gesehen hat, heute missen möchte. So erhielt Evelyn Richter bereits 1955 wichtige Impulse durch die von Edward Steichen in West-Berlin organisierte Ausstellung „The Family of Man”. Der Versuch, das menschliche Leben in seiner Vielfalt in Fotografien zu bannen und diese dann als ästhetische Bilder im sozialen Bewusstsein zu verankern, wird Motivation für ihre eigene Arbeit.
Ihre Bilder sind geprägt von einer tiefen Anteilnahme, sie zeigen aber auch sehr unmissverständlich die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände auf. So zeugen etwa die Porträts sowjetischer Musiker wie David Oistrach oder Mstislaw Rostropowitsch (dem Beschützer Alexander Solshenitzyns) vom untrüglichen Blick der Künstlerin für das unter widrigen Verhältnissen unbedingt Bewahrenswerte. Ihre schöpferischen Leistungen konnte das Regime nicht ignorieren, und so bekam Evelyn Richter 1981 einen Lehrauftrag, später eine Dozentur für Fotografie in Leipzig.
Nach der politischen Wende übte sie zuerst eine Lehrtätigkeit in Bielefeld aus und kam dann 1991 mit Ehrenprofessur und Lehrauftrag an „ihre” Leipziger Hochschule zurück. Und es war denn auch im dortigen Museum der bildenden Künste, wo im Herbst vergangenen Jahres ihr bisheriges künstlerisches Werk in einer umfassenden Ausstellung gewürdigt wurde.
Ob es gerade die oftmals bedrückenden Verhältnisse in der DDR waren, die Anlass gaben, etwas Gültiges für die Mitmenschen und für die Nachgeborenen zu schaffen, bejaht die Künstlerin uneingeschränkt. Sie verweist zu Recht darauf, dass es heute – unter den Bedingungen einer freieren Persönlichkeitsentwicklung – ein Missverhältnis gibt zwischen dem Angebot an Möglichkeiten und den oftmals allzu bescheidenen Ergebnissen. Kunst braucht eben auch Widerstand, meint die heute Fünfundsiebzigjährige. Und sie weiß wahrlich, wovon sie spricht.
Fünfundsiebzigjährig? Ja, wenn man ihre Biografie nachliest, muss das wohl stimmen. Indes, der mädchenhafte Charme, mit dem sie den Besuch am Sonntagnachmittag bei sich zum Kaffee empfängt und letzteren türkisch serviert („Ich mag keine Kaffeemaschine”), sowie die unerwartete Lockerheit, mit der sie von jahrzehntelangen Bedrückungen berichtet, widersprechen den nüchternen Fakten.
Und dann sind da ihre wachen Augen. Mit diesen hat Evelyn Richter Momente aus dem Leben einzelner Großer wie aus dem Leben vieler scheinbar Namenloser festgehalten – nur scheinbar namenlos deshalb, weil die von ihr im Bild festgehaltenen Menschen einer ganzen Epoche einen Namen gegeben haben: Es ist dies die Zeitspanne zwischen dem ersten Aufbegehren eines Teils unseres Volkes im Jahr 1953 und dem Aufbegehren eben dieses Teilvolkes nach 40-jähriger Teilung Deutschlands.
Dass sich nach der politischen Wende neue Irrungen und Wirrungen in Deutschland, in Sachsen und in Dresden eingestellt haben, erkennt und benennt die Künstlerin genau so mutig wie ehedem. So arbeitet Evelyn Richter weiterhin daran, der Wahrheit Gehör und vor allem Gesicht zu verschaffen – als Fotokünstlerin in Schwarz auf Weiß, ohne der Versuchung zu erliegen, nunmehr die Verhältnisse schwarzweiß zu sehen.
Christine Karla Schröder
Festgehalten und niedergeschrieben nach einem Besuch bei Frau Prof. Richter am Sonntagnachmittag in Neukirch in der Lausitz.