Ein Mädchentagebuch aus dem Körnerhaus (1851)

„Mein liebes schönes Loschwitz…“

Die 16-jährige Maria von Gutschmid (1834 – 1896) war Vollwaise und daher mit ihren jüngeren Geschwistern einer Tante anvertraut. Die Familie von Gutschmid hatte schon 1836 das Loschwitzer Körnerhaus mit dem Weinberg  als „Sommersitz“ erworben. Üblicherweise zog man bei Frühlingsanfang aus der Stadtwohnung „ins Freie“ und erst im Spätherbst wieder nach Dresden. – An die Familie von Gutschmid erinnert heute noch vor allem der Gutschmidbrunnen am Taschenbergpalais (Cholerabrunnen von Gottfried Semper), aber auch die Gutschmidstraße beim Neustädter Bahnhof.

Wie sehr sich die verwaiste Maria nach Mutter und Vater sehnte, zeigt eine ihrer Tagebucheintragungen: „Es war heute davon die Rede, dass ich oft viel später als Hermine einschlafe. Die Tante frug: War­um? Ich aber wich ihrer Frage aus, denn sonst hätte ich zugeben müssen, daß ich geweint; geweint bei dem Andenken an die Zeit, da meine Mutter lebte, sie, die mich innig liebte, geweint bei dem Gedanken, wie mein Vater, wenn er noch lebte, sein Kind lieben würde.“

Es folgen Auszüge – meist auf Losch­witz bezogen – aus dem erhalten ge­bliebenen Tagebuch, vom Original abgeschrieben für den Elbhang-Kurier von Karl-Ludwig Hoch.


1. Januar 1851: Das Tagebuch soll ein Spiegel der Seele sein. Darum will ich frei und offen meine Gedanken, Wünsche und Erinnerungen diesen Blättern anvertrauen. Ein Ideal schwebt mir vor, ein Mädchen von Geist und Herz besser, wie ich und doch dabei so fröhlich; diesem Ideal will ich mich bestreben gleich zu werden.

Das Mädchentagebuch der Maria von Gutschmid. Foto: Dietlind Hoch

Das Mädchentagebuch der Maria von Gutschmid.
Foto: Dietlind Hoch

12. April 1851: Wie sehne ich mich aus der räucherischen Stadt nach dem lieben Loschwitz!

1. Mai 1851: Heute sind wir nun wieder ins liebe Körnerhaus im geliebten Loschwitz eingezogen. Wie glücklich fühle ich mich. Das Wetter war so schön, daß wir im Garten sitzen konnten…

8. Mai 1851: Heute hielt das Dampfschiff zum ersten Mal in Loschwitz. Wir sind alle ganz froh, wie bequem wir es künftig haben, wenn wir mit dem Dampfschiff fahren können. Der König (1), die Königin Maria (2) und die Prinzess Auguste besahen sich die getroffenen Anstalten und wir machten unsere tiefsten Knixse.

17. Mai 1851: Heute war der erste wahrhaft schöne Tag in diesem Mai. Wir gingen beim Brunnentrinken in den Loschwitzer Grund und freuten uns über die Frische der durch Tau erquickten Pflanzen. Am Nachmittag unternahmen wir mit Nanni einen wunderschönen Spaziergang in den Wachwitzer Grund, der wilder und dadurch viel schöner ist, als der Loschwitzer. Nanni führte uns einen uns noch nicht bekannten Weg, den „Königlichen Fußsteg“ über die Weinberge hin bis Nieder Bäuritz (!). Die Elbe lag spiegelglatt zu unseren Füßen. Man sah die Dresdner Türme und mitten in den blühenden Fluren die kleinen Dörfer. Gott wie ist deine Welt so schön.

28. Mai 1851: Heute lasen wir mit verteileten Rollen Schillers „Willhelm Tell“. Er gefiel mir aber nicht so, wie „Die Braut von Messina“.

Friedrich August II., König von Sachsen,  circa 1840 Stich von unbekanntem Künstler.

Friedrich August II., König von Sachsen,
circa 1840 Stich von unbekanntem Künstler.

21. Juni 1851: Ganz wider Willen unternahmen wir eine Parthie zur Keppmühle, weil Engels in Pillnitz ausgeflogen waren. Unterwegs trafen wir Friedrich, der ein wenig spazieren gewesen. Als wir ihm das Ziel unserer Wanderung gesagt hatten, so kam er mit dem Bedienten nach.

12. Juli 1851: Das Fräulein von Gutschmid hat keine anständigen Schuhe, um morgen in die Kirche zu gehen. Wie lächerlich das klingt, doch es ist wahr, daß ich, da drei Paar beim Schuhmacher sind, so arm wie ein Bettelmädchen – in dieser Hinsicht! – bin. Nun wenn es diesen Sonntag nicht geht, so geschieht es doch wohl den nächsten Sonntag.

30. Juli 1851: Heute bin ich noch 16 Jahr, morgen aber 17. Siebzehn Jahr ist schon ein recht „würdiges“ Alter?

31. Juli 1851: Wir eilten zum Dampfschiff und fuhren nach Königstein. Dann stiegen wir zur Festung, von der man eine schöne Aussicht genießt. Noch mehr interessierte mich der Brunnen. Wasser welches heruntergegossen wurde hörte man erst nach 20 Sekunden.

10. August 1851: Der herrliche Mond scheint mild zu meinem Fensterchen herein. Jeder seiner Strahlen scheint mir ein Blick aus höheren Sphären, der liebenden Mutter auf mich, auf ihr Kind.

20. August 1851: Ich bin ganz begeistert von einer Parthie auf den Pabststein, die wir heute bei dem herrlichen Wetter unternahmen. Auf diesem Felsen ist es noch romantisch, dort hat die Spekulation der Gastwirte noch nicht hohe, prächtige Gasthäuser errichtet. Ganz einfache Rindenhütten wagen es kaum, sich über die auf dem Gipfel des Pabststein umhergestreuten Felsblöcke zu erheben. An die fernen Felsen wie den Zirkelstein und die Krone erblickt man von der Höhe aus in herrlicher Beleuchtung.

Festung Königstein, Lithographie ca. 1840. Abbildung: Sammlung K.-L.Hoch

Festung Königstein, Lithographie ca. 1840.
Abbildung: Sammlung K.-L.Hoch

26. August 1851: Es wäre doch gar nicht so übel, wenn ich, wie die Tante sich zum Spaße ausgedacht, die Frau von Bose würde. Freilich müßte er sich tüchtig in mich, ich mich tüchtig in ihn verlieben, denn eine Vernunftehe erscheint meinen 17-jährigen Augen erschrecklich. Wenn ich meinen Zukünftigen nur einmal zu sehen bekäme!

6. September 1851: Im Freien beim Mondschein möchte ich schwärmen, anstatt Tagebuch zu schreiben. Da dies aber nicht möglich ist, so werde ich mich ins Bett begeben, um dort zu schwärmen, zu träumen.

14. September 1851: Ich habe mich schon mehr als einmal, wenn wir einem Herren begegnen, der mich recht scharf angesehen, bei dem Gedanken ertappt, daß er mich darum betrachtet, weil er mich hübsch findet.

15. September 1851: Wir fuhren in den Liebethaler Grund. Emporstrebende, bemooste, mit schönen Bäumen geschmückte Felswände bilden dieses Thal, durch welches die Wesenitz rauscht. Ein stiller Friede flößt das Gefühl ein, als wäre man von der übrigen Welt abgeschlossen. Als wir aber um eine Felsspitze bogen, da blickte uns ein Gebäude im Sonnenschein an, die Lochmühle.

21. Oktober 1851: Der Kindersinn ist mir entflohen, ich denke zu oft an Bälle, denke wie angenehm es wäre, wenn ich recht viel tanzte. Eines ist mir von meiner Kindlichkeit geblieben: die drei Stufen am Hause gehe ich nicht, sondern springe ich herunter, noch mit der selben Freude wie früher.

26. Oktober 1851: Huh, wie sich die Großmama entzückt über Vernunftheiraten äußert und wie sie die Eltern lobt, die ihre Kinder zwingen, nicht der Liebe zu folgen, sondern nach Rang und Reichtum zu heiraten. Ich will aber lieber, das nehme ich mir fest vor, dem Triebe meines Herzens folgen.

18. November 1851: Wie zitterte der arme Spitzenmann vor unserem Haus vor Altersschwäche und Kälte! Wenn ich bedenke, daß ich mit meinen 17 Jahren mich in meiner warmen Stube hegen und pflegen darf, während ein gewiß siebzigjähriger Greis von Haus zu Haus schleichen muß, um mit flehender Stimme seine Ware anzubieten, dann frage ich verwundert: Wieso geht es mir so viel besser?

16. Dezember 1851: Ich bin so vergnügt, daß sich das Schlüsselchen zu meinem Tagebuch wiedergefunden hat. Ich war in großer Angst darum.

24. Januar 1852: Heute gingen wir erstmalig über die schöne neue Eisenbahnbrücke (3), wir waren ganz entzückt daran. Die Lößnitzer Hänge nehmen sich so hübsch von der Brücke betrachtet aus.

20. März 1852: Das Wetter war so schön, daß wir einen Spaziergang nach Loschwitz der Unterrichtsstunde von Madame Lößnitzer  vor­zogen, was gar nicht zu verwundern ist. Denn die Sehnsucht, bald ganz nach Loschwitz zu gehen ist so lebhaft in mir erwacht.

Der Waldschlößchenblick, Originalzeichnung von Maria geb. von Gutschmid ca. 1880, links „Antons“, unter der Frauenkirche die neue Albertbrücke. Abbildung: Sammlung K.-L. Hoch

Der Waldschlößchenblick, Originalzeichnung von Maria geb. von Gutschmid ca. 1880, links „Antons“, unter der Frauenkirche die neue Albertbrücke.
Abbildung: Sammlung K.-L. Hoch

8. April 1852: Heinrich Treitschke (4) hat sich während des Studiums sehr zu seinem Vorteil verändert, sein ganzes Benehmen ist an­ge­nehmer, der Dialekt, den er sich angewöhnt hat, entzückt uns alle!

19. April 1852: Wir können wirklich froh sein, daß wir wieder gesund zu Hause sind, denn bei der Illumination der neuen Brücke war ein Gedränge, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich armes Wesen verlor die Meinigen in der Menschenmenge und mußt allein nach Hause gehen. Ich beweine meinen Überschuh, der wahrscheinlich zer­treten, zerquetscht auf der Brücke oder in der Elbe liegt.

18. April 1852: Ach, wie freue ich mich auf Loschwitz, wo man nicht auf Pflaster zwischen Häusern, sondern in der herrlichen freien Natur leben und wandern kann.

22. Mai 1852: Wie gut, daß wir heute nicht die weite Wanderung nach Meissen machten bei der Hitze und so viel Staub. Fünf Stunden zu Fuß laufen ist nicht angenehm – besser in dem lieben schönen Loschwitz bleiben!

14. Juni 1852: Heute wurde eine Parthie auf den Porsberg veranstaltet. Die Luft war rein und klar, dadurch die Aussicht herrlich. Auf dem Dampfschiff rückzu beobachtete ich ein Liebespaar, wie ein junger schöner Mann einem Mädchen die Cour machte. Er beugte sich zu ihr und suchte einen Blick zu erhaschen, er bat sie um eine Blume aus ihrem Strauß und suchte durch List eine solche zu erobern, da ihm seine Bitte abgeschlagen wurde.

23. August 1852: Solange mir die beim preussischen Palais (5) arbeitenden Maler nicht zu nahe kommen, amüsiert es mich eigentlich, wie sie sich vergeblich bemühen, meine Aufmerksamkeit zu erregen.

31. Dezember 1852: Wir kehrten spät von Treitschkes zurück, sodaß  wir noch munter waren, als die feierlichen Glockentöne den Beginn des neuen Jahres verkündeten. Es war so erhebend, so schön, daß ich nicht anders konnte, als beten und je länger ich betete, je stiller ward es in meinem Inneren.

11. März 1853: Eine unendliche Sehnsucht nach Loschwitz ist durch unseren Spaziergang dahin in mir erwacht – und ich mußte doch wieder in die Stadt heimkehren.

26. März 1853: Wir hörten das schöne Tedeum in der katholischen Hofkirche. Ich würde auch die Prozession gesehen haben, hätte nicht ein Leutnant sich in meinen Mantel verwickelt und mich durch diesen unglücklichen Zufall von meinem guten Platz hinweg zu einem schlechten gezogen, wo uns ein anderer Offizier glücklich auseinander brachte.

14. April 1853: Es wird jetzt überall von einem merkwürdigen Experiment, dem „Tischrücken“ gesprochen. Wir versuchten es auch, bildeten sehr ernsthaft eine Kette um den Tisch, hatten aber nicht die Geduld, womöglich zwei Stunden zu warten, bis sich der Tisch bewegen würde. Wir glaubten ein Zittern zu fühlen, aber es war vielleicht nicht der Tisch, sondern wir selber.

18. Juni 1853: Wir sahen von Zobels Wohnung aus den Einzug der Prinzess Carola (6) ausgezeichnet gut. Der Zug aus Beamten, Bergleuten, Soldaten, Postillionen, Bauern usw. bestehend interessierte mich sehr, besonders aber die durch ihre anmutigen, freundlichen Bewegungen entzückende Prinzessin.

4. August 1853: Ich bin immer recht zufrieden und glücklich, wenn ich einen ganzen Tag gemalt habe.

23. November 1853: Lebewohl mein Loschwitz, mein liebes, schönes Loschwitz.

25. November 1853: Gott, wie ist es ungemütlich in Dresden, mir mißfällt es ungemein. Es ist Winter.“

31. Dezember 1853: Mein Tagebuch ist vollendet. Die Gedanken dreier Jahre sind darin. Aber ach, lese ich darin, fühle ich mich nicht befriedigt.

Anmerkungen

  1. König Friedrich August II. war 1797 geboren, wurde 1836 sächsischer König und starb 1854 bei einem Unfall in Bronnbichel. Sein Denkmal von Ernst Hähnel steht auf dem Neumarkt vor dem Hotel de Sax.
  2. Nach der Königin Maria wurde der erste Personendampfer „Königin Maria“ (1836) und die zweite Elbbrücke „Marienbrücke“ (1852) benannt.
  3. Die Marienbrücke wurde 1846 – 1854 als kombinierte Personen- und Eisenbahn von Johann Gottlieb Lohse errichtet. Die seperate Eisenbahnbrücke neben der Marienbrücke entstand erst 1861.
  4. (1834 – 1895) besuchte die Dresdner Kreuzschule und weilte oft bei seinen Eltern in Loschwitz (Veilchenweg 9). Als Mitarbeiter Bismarcks wurde er zu einem bedeutenden Historiker (u.a. Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5 Bände)
  5. Das Schloss Albrechtsberg wurde in den Jahren 1850 – 1854 durch den Berliner Hofbaumeister Adolf Lohse errichtet.
  6. Carola (1833 – 1907) war Prinzessin von Wasa und wurde 1873 als Gemahlin von König Albert (1828 – 1902) Königin von Sachsen („Carolabrücke“).
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