Erlebnisse am Elbhang
Wir waren auf dem Körnerplatz einkaufen, meine Mutter und ich, und kamen eben aus dem Milchladen Naacke. „Darf ich aus der Kanne einen Schluck trinken?“ fragte ich meine Mutter. Ich durfte. Über den Kannenrand sah ich, dass einige Volkspolizisten gerade dabei waren, den Verkehr auf dem Platz anzuhalten. Nicht nur die wenigen Autos, Motorräder und Fahrräder, sondern auch die Fußgänger. Einige standen schon regungslos auf einem Fleck. Meine Mutter bekam nichts mit und sie lief mit mir weiter. Als ein Polizist auf uns zu kam mit der Aufforderung stehen zu bleiben, ging meine Mutter, ohne auf seine Signale zu reagieren, zügig in Richtung Bäckerei Winkler. Sie verstand nicht richtig, was sie tun sollte und warum. Ich zog sie ärgerlich am Arm, sagte ihr, wir sollen jetzt alle stehen bleiben. Und da außer uns jeder bewegungslos dastand, gingen wir dann auch nicht weiter. Ungläubig schauten wir uns um, ich war gespannt, was das werden sollte.
Plötzlich kam über mehrere Lautsprecher, die auf ein LKW-Dach geschraubt waren und in alle Richtungen zeigten, die Information, dass unser werter Genosse Stalin gestorben sei und alle eine Gedenkminute einlegen sollten. Einige Männer steckten sich eine Zigarette an, unterhielten sich leise und grinsten. Frauen stellten ihr Einkaufstaschen ab und es schien mir, als war ihnen dieser zwangsweise Stillstand eine willkommene Erholungspause. Nur ein paar kleine Kinder zappelten an den Händen ihrer Mütter.
Das Bild auf dem Körnerplatz war wie auf einem Foto, alle standen da wo sie im Moment der Aufnahme waren und nichts bewegte sich. Radfahrer stützten sich auf ihren Lenkern ab oder lehnten an einer Hauswand und rauchten ebenfalls. Nach einer Minute, oder zwei oder drei, ich weiß es nicht mehr genau, kam eine erneute Durchsage und die Fahrzeuge setzten sich wieder in Bewegung und die starren Menschen liefen los. Meine Mutter lachte mich an, so als ob sie jemandem eins ausgewischt hätte.