Ein merkwürdiger Wahlsonntag

Es mußten immer 99,98% sein: Ein DDR-Jungwähler-Erlebnis

Die Partei-und Staatsführung holte sich in gewissen Abständen die organisierte Zustimmung des Volkes in einem straff geregelten und langfristig vorbereiteten Wahlakt. Die Kandidaten der Nationalen Front, also eigentlich die Stimmen des DDR-Volkes, sollten für die Volksvertretungen gewählt werden. 1962 – wir lebten in einer umsorgten und zudem gut bewachten Landschaft – wurden wir durch Radio und Zeitung auf die „Volkwahl“ vorbereitet. Das Wahlgesetz hatte uns 18-Jährige zu vielversprechenden „Jungwählern“ gemacht.

Nun war es aber Sommer und Badewetter auch, und da beschlossen wir beiden „Jungwähler“, Thomas und ich, vorerst in Moritzburg baden zu gehen. Mit dem nötigen Mundvorrat versehen, fuhren wir mit den Fahrrädern zu einem der Moritzburger Teiche und badeten intensiv. Am späten Nachmittag trafen wir dann etwas erschöpft, aber gutgelaunt zu Hause ein.

Schon von weitem sahen wir Thomas’ Mutter händeringend auf dem Balkon stehen und sie forderte von uns besondere Eile. Was war geschehen?

Seit den Mittagsstunden tauchten in den Wohnungen unserer Eltern in der Franken- und Sickingenstraße immer wieder verschiedene Personen auf, die nachfragten, warum die „Jungwähler“ ihrer staatsbürgerlichen Pflicht noch nicht nachgekommen seien. Schließlich fuhr der Parteipropaganda-Wagen herum und beschallte die Straßen mit den Namen der säumigen Wähler. Unsere Eltern befürchteten das Schlimmste, Thomas’ Mutter sah schon die Enteignung der renommierten Strehlener Eisenhandlung voraus und meine Mutter, Lehrerin in Tolkewitz, befürchtete unangenehme Fragen ihres Schulleiters bzw. Repressionen durch die Schulbehörde. Etwas verunsichert trotteten wir dann in die Prellerstraße, wo im Waldparkhotel das zuständige Wahllokal untergebracht war.

Für uns „Jungwähler“ gab es keine Blumensträuße, keine Gratulationen; fast wortlos mit mißbilligenden, eisigen Blicken bekamen wir die Einheitslisten-Wahlpapiere ausgehändigt, wir wählten und das wars dann auch.

Nachtrag: Meine Mutter war auch deshalb so voller Angst, weil mein Großvater bei der Wahl am frühen Nachmittag einen Eklat verursacht hatte: Mit einem Bleistiftstummel strich er unter den Augen der Wahlbeauftragten alle Namen durch und steckte das Blatt demonstrativ in die Wahlurne.

Gerd Grießbach

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