Villa Marie – zum Zweiten

Erinnerungen eines malenden Bewohners

Die Villa Marie am „Blauen Wunder“ ist der Beginn meiner Liebe und Identifizierung mit Dresden und ganz besonders zum Loschwitzer Elbhang. Von dort, in dem dreißig Quadratmeterzimmer mit „Meerblick“ durfte ich meine ersten Dresdner Jahre genießen.
Wenn ich des Nachts über einer Lektüre oder Zeichnung zu den beiden Fenstern hinaus sah und die Elbe bleiern im Mondlicht dahin ging, kam ich mir vor wie ein Kapitän auf der Brücke eines Riesendampfers. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur das ewige Jetzt. Alles lauschte mit mir. Es war nicht einmal ein Lauschen, es war eher ein schwer zu benennendes inhaltsvolles Leer, ein Schweigen von unglaublichem Reichtum. Alles klang und war ohne Namen und doch bekannt. So dachte ich, nehmen in kleinen schrägen Dachzimmern die größten Taten, seien es Segnungen, seien es Verbrechen, ihren Anfang.

Na ja. Die Villa fand ich in Berlin. Dort auf Wohnungssuche begegnete mir Ute, die sagte, bei ihr im Haus sei noch ein Zimmer frei. Es ist allerdings in Dresden. Nicht ahnend, dass es das halbverfallen aussehende Haus ist, an dem ich ein Jahr zuvor im Dunkeln vorüber ging, der Mond unsäglich fein auf dem Dach schimmerte, ein Zimmer gelblich von einer Glühbirne hinter einem Vorhang erhellt, ich mit einem Seufzer mir sagte : „Hier müsste man mit ein paar Gleichgesonnenen wohnen, das wär‘s“. Nun stand ich vor diesem Haus. 2. Januar 1978 zog ich ein. Die beiden Fenster des Zimmers waren eingeschlagen. Wo noch Tapeten an der Wand waren, hingen diese halb heruntergerissen in großen Fetzen von der Wand. Die erste Nacht war kalt. Den nächsten Tag ging ich, einen Fensterflügel unter dem Arm, zum Glaser auf der Jüngststraße, erzählte ihm meine Geschichte und er verglaste es auch sofort neu, ich holte das nächste usw..

Das Haus und seine (legalen und illegalen) Bewohner

Ich war gleich gut aufgenommen. Im Haus wohnte in jener Zeit die 76 Jahre alte Frau Jungblut – welch ein Name zu dem Alter! Sie war die einzige mit einem richtigen Mietvertrag. Es wohnten dort, quasi als Haus(erhalter)besetzer, die schon erwähnte Ute Mohns (mein Dank wird Dir ewig nachschleichen), dann Elisabeth und Wolfgang Kanske, Klaus Heisig und oben Schiekels. Wolfgang K. wies mich gleich in alles Nötige ein, wo günstig essen, wo Kohlen – nämlich vor dem Rathaus. Die wurden nie in den Keller geschippt, und wenn man nachts nach Hause kam, nahm man immer einen Marmeladeneimer oder Karton voll mit. Ein paar Möbel fanden sich auch im Haus. Das Bett baute ich über Obstkisten, die mit Zwischenbrettchen versehen zu Bücherregalen mutierten.

Frau Jungbluth Zeichnung: Konrad Maass

Frau Jungbluth
Zeichnung: Konrad Maass

Alles war einfach großartig. Unsere gegenseitige Achtung und Offenheit zueinander war wunderbar, mein Traum erfüllte sich nahezu gänzlich. Wir waren Gleichgesinnte. Kanskes und Heisig durch die Musik verbunden, Ute Mohns und ich durch die Malerei. Bei schönem Wetter nahmen wir die Mahlzeiten auch mal gemeinsam im Freien ein, feierten Feste mit Lagerfeuer oft bis zum Hellwerden.

Nur ein Lagerfeuer

Einer Feier soll hier gedacht werden. Wir holten wie so oft das Bier in Wassereimern vom Schiller-, Elbe- oder Körnergarten, trugen es über das Blaue Wunder und stellten es unweit des Feuers. Auch die Volkspolizei kam, wie so oft, und wollte das Löschwasser sehen. Wir wiesen auf die Biereimer und sie zogen wieder ab. Während unseres feucht-fröhlichen Beisammenseins sahen wir durch das Nachbargrundstück hindurch einen großen Löschzug der Feuerwehr den Angelsteg – ist natürlich kein „Angelsteg“, die Straße heißt so – herunterkommen und an der Elbwiese bremsen, dass er sich schwer nach vorne und dann nach hinten wiegte, als grüßte er die Elbe.

Dahinter ein Zweites, dann noch ein Drittes. Die Feuerwehrleute sprangen herab. Alles klapperte an ihnen und sie rollten die Schläuche zur Elbe aus. Wir glaubten an eine Nachtübung, dem war aber nicht so. Denn plötzlich standen zwei von ihnen an unserem Feuer und starrten auf uns wie zwei Außerirdische, die ihr Raumschiff nicht wieder fanden. Man muss hierbei bedenken, dass das Nachbargrundstück, durch das sie kamen, einen Zaun hatte, dessen Spitzen wie mit einem Messer gespitzt waren. Sie mussten, da sie den Weg daneben nicht sahen, erst in das Grundstück klettern und dann auf unserer Seite wieder heraus. Nun standen die Beiden verwundert vor unserer ausgelassenen Gesellschaft.

Elke schrie „Passt auf die Beete auf, macht den Rhododendron nicht kaputt“. Malerfreund Kühne wiederum rannte mit zwei Weinflaschen zu ihnen und rief:„Jungs, was wollt ihr trinken, Roten oder Weißen?“ Der Ober sagte zum Unter: „Machen sie Zwischenmeldung, handelt sich nur um Lagerfeuer“.Ich ging nun auch hin, um die Beiden zu beschwichtigen, denn für sie ging es hier zu „johlig“ zu. Fragte nach dem Zustandekommen der Aktion, und der Chef-Feuerwehrmann sagte, ein Linienbusfahrer habe das Feuer vom Blauen Wunder gesehen und sie alarmiert und eingewiesen. „Bleibt da was an uns hängen?“, fragte ich, „nein, am Busfahrer“ sagte jener . Wir verabschiedeten ihn und zeigten ihm den natürlichen Ausgang. Indessen wurden die Schläuche von gebückten Feuerwehrleuten im taufeuchtem hohen Gras wieder eingerollt, dies von etlichen witzigen Bemerkungen unsererseits begleitet, welche Lachsalven auslösten …

Ein Klavier verbrennt

Dann erinnere ich mich einiger Feiern, wo im Freien Super-8- Filme auf zwischen Bäumen gespannten Laken gezeigt wurden. Dazu wurde Livemusik mit Helge Blechbläser, Hansi Geige und Fiedi Egitarre gespielt. Zum Leidwesen unserer Nachbarn fand sich eines Tages eine große Pauke aus dem Container unter dem Blauen Wunder bei uns ein, vermutlich aus einem Fanfarenzug stammend. Dann, als Kanskes heirateten, wurde ein Klavier nach Draußen unter ein Vordach gestellt. Es verrichtete seine wunderbaren Dienste zum Polterabend, nur trug es niemand wieder rein. Als es dann nach Zeiten hinüber war, nicht nur die Tasten total verquollen, auch dessen Elfenbeine waren nur noch spärlich vorhanden. Ja, es war so absolut hinüber, dass bei einer Feier, der das Brennholz ausging, dieses dann irgendwie im Ganzen in das Feuer gezogen wurde. Leute, hört auf zu schimpfen, es war wirklich hinüber. Aber, da es oft gestrichen worden war, hatte es etliche dicke Farbschichten übereinander. Für den Polterabend war es extra noch gestrichen worden. Es entwickelte jedenfalls einen ganz enormen Qualm. Ein leichter Wind drückte diesen an die Villa, dass es ganz schlimm aussah. Aber es verglomm dann nach Stunden friedlich ohne Feuerwehr.

Ein anderes Erlebnis: Eines Morgens, ich wache auf, vom Geblöke vieler Schafe geweckt, deren Rücken vor meinen Fenstern wogten. Ich sprang heraus aus dem Bett, aus dem Fenster, griff mir das erstbeste Brett, um diese zu vertreiben. Die Schafe stoben ums Haus, um gleich darauf zurück zu kommen. Das ging eine Weile, bis ich merkte, daß Frau Jungblut am anderen Ende hinter der Hausecke stand und sie wieder zu mir trieb. Als alles vorbei war, war auf dem ganzen Grundstück keine einzige Blume mehr zu finden.

Als uns die letzte „ordentliche“ Mieterin verließ

Ein anderes Mal, Frau Jungblut fragte mich: „Wollen wir heute sündigen?“ Was, da sie zuckerkrank war, bedeutete, ich holte vom Toscana Kuchen, sie kochte derweil Kaffee, und wir saßen schwatzend und ich zeichnete sie bei dieser Gelegenheit oft. Manchmal auch in Öl und Essig, wie sie es nannte. Sie erzählte unter anderem, ein russischer Kapitän habe die Villa erbauen lassen. Dann wenige Jahre später, als das Blaue Wunder gebaut wurde, verkaufte er die Villa wieder. Als Frau Jungblut ein Jahr später dann mit 78 Jahren im Sterben lag, war ich oft bei ihr und zeichnete sie, selbst dann noch, als sie verstorben war. Da sie an einem sehr warmen Freitag im Hochsommer starb, blieb sie (mir bis heute unbegreiflich) über das Wochenende in ihrer Wohnung liegen, die Fenster offen. Das ganze Fährgäßchen roch entsetzlich. Am Montag dann kamen die Leichenträger. Ein widerliches Grüppchen, überall rissen sie die Türen auf, ohne anzuklopfen, fragten nach alten Bilderrahmen und Regulatoren und krochen in jede Ecke. Auch diese habe ich gemalt.

Ordnung muss(te) sein

Ein Thema noch, das ich nicht auslassen möchte, ist dieses: Eines Tages, ich komm von einem Gang nach Hause, zwei Typen stehen etwas ratlos wirkend vor den Klingelschildern und bemühen sich, da etwas zu entziffern. Ich schnell an ihnen vorbei ins Haus, die Tür zugeknallt, denkend, die können ja klingeln, wenn sie was wollen. Die Tür hatte ein kompliziertes altes Schloss. Mit einem Dietrich nicht auf zu kriegen. Ich schaute vorsichtig aus dem Fenster, keiner da. Ich öffnete die Wohnungstür und hörte sie unten bei Wanda reden. Na, dann werden die ja gleich bei dir sein. Und richtig, es klopft, ich öffne und die wollten auch gleich rein. Ich machte ihnen aber keinen Platz. Sie fragten nach dem Hausbuch, welches ja zu DDR-Zeiten geführt werden musste. Dies habe die KWV (Wohnungsverwaltung) sagte ich ihnen, aber ich könne ihnen das Mietquittungsbuch zeigen wenn, sie wollen. Sie wollten. Ja sie wollten auch gleich wieder rein, ich schloss die Tür, holte das Gewünschte, hielt es ihnen geöffnet hin, sie aber schauten gar nicht hinein, sondern fragten, ob wir denn auch mal feiern. Ja klar, sagte ich, das kommt schon mal vor. Was denn ? Na, Ostern, Weihnachten, Geburtstag und so. Das meinen wir nicht, sagten sie ärgerlich. Ich zuckte mit den Schultern und sie zogen ab. Für dieses Mal.

Dann bekam ich eine Vorladung vom ABV. Das war der Abschnittsbevollmächtigte (Volkspolizist), für ein bestimmtes Wohngebiet zuständig, mit einem Büro.- auch kurz „Revierförster“ genannt. Nun, da ich zu jener Stunde gerade meine berüchtigte Aktzeichenbrigade da hatte, war natürlich dafür keine Zeit. Andere müssen auch arbeiten, sagte ich mir und ging erst Stunden später vorbei. Der Abschnitsvollmacher rannte, als ich kam, aufgeregt zum Fenster und sagte, „die haben aber geschimpft“. „Wer denn?“, fragte ich. „Das darf ich ihnen nicht sagen“. „Na dann sagen sie diesen, wenn sie wieder ein Mal etwas wollen, sollen sie mir zwei Wochen vorher Bescheid geben, auch ich habe zu tun“. Um es kurz zu machen, ich bekam den unerwünschten Termin, konnte ihn aber wieder nicht wahrnehmen. Als ich dann mal in meiner alten Heimat Rostock war und zurückkam, war bei mir eingebrochen worden. Die Tür war eingetreten. Ich ging rein, Bilder standen im Halbkreis, Zeichnungsstapel lagen verstreut herum, und über die ganze Wand groß und dick stand mit Zeichenkohle geschrieben: „Ich, Gerald habe deine Bilder, melde dich“.

Und dann stand da noch eine Nummer. Ich holte die Polizei, die auch schnell da war. Als diese aber die Schrift an der Wand sahen, tuschelten sie nur noch miteinander und sagten, sie hätten alles veranlasst, der ABV käme dann und erledige den Rest. Ja, mein alter Freund Abschnittsvollmacher kam und versuchte, mir dann zu erklären, dass das ein Freund gemacht haben muss. Ich erklärte ihm, dass ich solche Freunde nicht habe. Er darauf, „dann rufen sie doch die Nummer da an der Wand an“. Ich sagte ihm, „das ist ja wohl ihre Aufgabe, oder soll ich ihre Arbeit auch noch machen?“ Nun zückte er sein Notizbuch und schrieb sich das Menetekel ab. Der Rest war Schweigen …

Außer diesem letzten Ereignis, dem Einbruch, waren meine sieben „Villen-Jahre“ eine
wunderbare reiche Zeit.

Konrad Maass

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