Laudatio für Jürgen Reichen, Namensgeber der 59. Grundschule Weißer Hirsch

Jürgen Reichen (1939 – 2009) steht für das pädagogische Konzept der 59. Grundschule Dresden-Weißer Hirsch.

Er, selbst Lehrer und in der Lehrerausbildung tätig gewesen, ist der Vater von „Lesen durch Schreiben”. Die Kinder bekommen, schon gleich zu Beginn der Schullaufbahn, eine Buchstabentabelle. Da ist ein Affe und eine Ameise neben dem „a”, eine Banane neben dem „b” abgebildet und so weiter, bis zur Zitrone für das „z”. Für jeden Buchstaben ein (An-)Laut, ein Bild, dazu noch ein paar Besonderheiten wie das Auto für den Laut „au”. Damit legen die jungen Herrschaften dann los. Nicht mit dem engen Buchstaben- und Wörterkanon, wenn alles der Reihe nach geht, wie es die Erwachsenen vorgegeben haben, sondern mit allen Wörtern von Anfang an. Was auch immer diese jungen Köpfe ausdrücken wollen: Sie können es, wenn sie wollen. Und sie wollen! Kommt man in eine solche Klasse (vergessene Pausenbrote nachbringen ist erlaubt, Schreibenüben nicht!), dann sind alle so aufmerksam beim Ausdrücken, dass ein ganz zartes Lernbrummen in der Luft liegt. Das Brummen kommt daher, dass sie sich die Wörter ganz leise und deutlich vorsagen, die sie gerade schreiben wollen, Laut für Laut, und ganz genau auf die eigenen Wörter hören. Und während der junge Mensch schreibt, angeregt durch die eigene Phantasie, durch vorgeschlagene Themen oder durch Bildergeschichten, muss er schauen, was er schon geschrieben hat. Aus diesem Schauen wird, von ganz alleine, Lesen. „Das Lesen habe ich nicht gelernt, das konnte ich einfach so”, sagen die Kinder dann. Gibt es einen schöneren Start in die Welt der Literatur?

Diese Kinder werden nicht „geschult” (eines der hässlichsten Wörter der deutschen Sprache), sondern sie lernen. Sie lernen gemeinsam in der Gruppe, aber doch nach individuellem Tempo, jeder nach seinem Fortschritt. Und von den Eltern wird was abverlangt: Zugucken, Geduld und Vertrauen in die Kinder haben. Und die abenteuerliche (der Fachbegriff ist „lautrichtige”) Rechtschreibung junger Menschen ertragen, denen es viel wichtiger ist, „viel” zu schreiben, als zu wissen, ob da nun ein „v” oder ein „f” am Anfang steht. Jürgen Reichen hat gesagt: für solche Fragen gibt es Rechtschreibprogramme. So war Jürgen Reichen: ein Freund zuerst der Kinder und nicht der äußeren Regeln. Tatsache allerdings ist: Schon sehr bald interessieren sich die Kinder dafür, „wie das die Erwachsenen schreiben” und schaffen nachgewiesenermaßen eine gute Rechtschreibung. Und auch andere Methoden produzieren bekanntlich nicht nur Rechtschreib-Asse.

Mit Jürgen Reichen ehren wir die Freiheit – die Freiheit der Kinder, dass sie nicht in ein Korsett gezwängt werden, sondern schreiben, was ihnen zu schreiben wichtig ist. Wir ehren aber auch Lehrerinnen vom Weißen Hirsch, die sich nach 1990 bewusst auf diesen Weg der Freiheit gemacht haben, die pädagogische Wege gesucht und mit Jürgen Reichen gefunden haben, um ihr Bild vom Kind, ihren Respekt vor den jungen Menschen auch praktisch zu leben. Diese Tradition eines außergewöhnlichen Engagements lebt bis heute im Kollegium der 59. Grundschule fort, auch wenn die Pioniere längst im Ruhestand sind.

Hier bekennt sich eine Schule zu pädagogischen Werten und Methoden, die dann auch den Alltag prägen. Die Freude ist doppelt: Dass sich eine Schule überhaupt zu Inhalten bekennt und sich nicht neutral und vermeintlich unverfänglich benennt, wie wir (aus Respekt vor der Schulautonomie) hier im Stadtrat so manche „Feld-, Wald- oder Wiesenschule“ benannt haben. …

„Der Lehrer,” so hat Reichen gesagt, „ist eigentlich überflüssig. Er soll nur Kaffee kochen und für gute Laune sorgen.” Mit Jürgen Reichen ehren wir die Gelassenheit, auf die Kraft zu vertrauen, die in jedem Menschen steckt, und dort zu helfen, wo es nötig ist. Eine Abstimmung mit den kleinen Füßen findet auch statt: Die 59. Grundschule kann sich vor Anmeldungen kaum retten.

Jürgen Reichen hat sich um die Kinder auf dem Weißen Hirsch und an anderen Schulen in Dresden wie auch außerhalb verdient gemacht. Es ist gut, dass wir ihn ehren.

Auszug aus einem Redebeitrag von Stadtrat Dr. Peter Lames am 21. Juni 2012

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