Ein Sechzehnjähriger zieht freiwillig in den Ersten Weltkrieg (Teil 2)

Gerd Grießbach beschreibt anhand hinterlassener Briefe das Kriegsschicksal seines Großonkels Reinhold Wildenhayn (1898 – 1980), der mit dem Leben davon kam und später in Loschwitz lebte.

Im Gefangenenlager Annebault-Dozulé Caen September 1917. Foto: Archiv Griesbach

Im Gefangenenlager Annebault-Dozulé Caen September 1917.
Foto: Archiv Griesbach

Im Januar 1917 teilte er seinen Eltern mit, dass er nun nach Annebault-Dozulé bei Caen in der Normandie gebracht worden war. Im Monat Juni 1918 meldete sich der nunmehr 20-jährige Reinhold W. aus Crissé bei Le Mans erneut mit einem Brief in der Heimat. Reinhold hatte sein Schulfranzösisch im Selbststudium verbessert und hatte gute Kenntnisse in der Mathematik, sodass er den deutschen Unteroffizieren und Feldwebeln bald verschiedene Verwaltungsaufgaben abnehmen konnte.

Nur drei mit Bleistift geschriebene Briefe von Reinhold Wildenhayn an seine Eltern haben die Zeiten überdauert. Am 7. Juli 1918 schrieb er einen Brief nach Dresden (über die in der Schweiz tätige Gefangenen-Hilfsorganisa­tion Pro Captivis erhielt er Päck­chen und sogar Geldsendungen, für die er sich bedankte):

Über die Geburtstagswünsche ha­be ich mich sehr gefreut. Nur schade, dass der beste, ihn zu Hause feiern zu können, nicht in Erfüllung gegangen ist. Mit dem (Gefangenen-)Austausch wird es wohl noch eine gute Weile dauern; man hört hier gar nichts davon.

Mit dem Datum 15. September 1918 ging eine erneute Nachricht an seine Eltern ab: Wenn ich nun endlich nach Hause käme, würde ich Euch viel Arbeit abnehmen können…

Diejenigen, die gleich zu Anfang des Krieges gefallen sind, sind zu beneiden… In meinen Träumen bin ich jetzt sehr viel zu Hause und dann morgens finde ich mich zu meinem grössten Bedauern wieder hier.

Eine Idylle(?): Im Lager Crissé bei Le Mans im Juni 1918, zwei Monate vor Kriegsende (Reinhold Wildenhayn o.r.). Foto: Archiv Griesbach

Eine Idylle(?): Im Lager Crissé bei Le Mans im Juni 1918, zwei Monate vor Kriegsende (Reinhold Wildenhayn o.r.).
Foto: Archiv Griesbach

Neben Lebensmitteln versorgte die Familie Reinhold W. auch mit Büchern, vor allem Fachliteratur und Belletristik, sodass er sich einiges Wissen anlesen konnte. Hinzu kam, dass die Gefangenen mitunter auch mit Zeitungen versorgt wurden. In vielen Lagern entstanden schon bald von den Gefangenen herausgegebene Lagerzeitungen; sie dienten der Dokumentation der eigenen Tätigkeit für die Angehörigen in der Heimat und der Erinne­rung für die Zeit nach Kriegsende.

Erstaunlich ist, dass der Akt der Gefangennahme kein Thema war, fühlten sich doch die Gefangenen offensichtlich als Soldaten zweiter Klasse.
Die Mutter Anna Wildenhayn beklagte in einem Brief, geschrieben am 24. Dezember 1918 an ihre Geschwister, die schwierige, fast hoffnungslose Lage ihrer Familie:

Der Vater liegt krank darnieder, von den in den USA lebenden Söhnen gibt es keine Nachrichten, die in die Jahre gekommenen Töchter finden keine Männer, Sohn Walter dient seit 1914 an der Westfront (zweimal verwundet) und der Jüngste lebt seit Jahren als Kriegsgefangener in Frankreich. Das beachtliche Vermögen des Vaters ist gefährdet oder gar verloren, war es doch einst in sicheren russischen Eisenbahnaktien und in österreichischen Wertpapieren angelegt worden.

Bereits im Juni hatte sich Reinhold W. in Le Mans fotografieren lassen, das Bild mit einer Nachricht erreichte die Eltern am 14. August 1918.Nach dem Abschluss des Waffenstillstandes vom November 1918 schreibt am 3. August 1919 der gehorsame Sohn an seine Eltern: …

Mit unserer Auslieferung (als Kriegsgefangene) wird immer noch kein Ernst gemacht, trotz der vielen Versprechungen. Leider sind auch die Verhandlungen über die Zivilarbeiter, die an unserer Stelle erscheinen sollen, ins Wasser gefallen… Also sind die Aussichten auf eine baldige Rückkehr mau, sehr mau… sollten wir Weihnachten noch nicht zu Hause sein, so vergesst bitte nicht, mir ein recht schönes Fresspaket mit einem kleinen Weihnachtsbäumchen zu­kom­men zu lassen.

Ende Dezember 1919, der problematische Versailler Vertrag regelte u. a. die Rückführung der etwa 425.000 Gefangenen und Zivilisten, wurde auch Reinhold Wildenhayn aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Nach tagelanger Bahnfahrt traf Reinhold Wildenhayn endlich in Dresden ein. Er war 21 Jahre alt, hatte keinen höheren Schulabschluss und keinen Beruf. Der Vater war am 26. Dezember 1919 in Dresden gestorben. Der Sohn trat ein in eine zerrüttete und politisch zerrissene deutsche Wirklichkeit. Er musste sich zurechtfinden.

Die Kriegsheimkehrer erhielten einen bescheidenen Geldbetrag und konnten sich bei Bedarf gespendete Kleidung über Hilfsorganisationen besorgen. Der intelligente und hochmotivierte junge Mann eignete sich in verschiedenen Seminaren das nötige Wissen an, bewarb sich dann an einer sächsischen Ingenieurschule und war, nachdem er sich u.a. als Straßenbahnschaffner und Dienst­mann fehlende Geldmittel verdient hatte, Ingenieur für Kältemaschinen.

Reinhold Wildenhayn in Le Mans Juni 1918. Foto: Archiv Griesbach

Reinhold Wildenhayn in Le Mans Juni 1918.
Foto: Archiv Griesbach

1928 und 1929 waren Krisenjahre; der junge Ingenieur fand keine Arbeit, sodass er als unbezahlter Volontär in einer Chemnitzer Firma arbeitete. Bei einer Kesselexplosion verätzten die austretenden Dämpfe die Netzhaut seiner Augen, alle Hilfe kam zu spät, Reinhold Wildenhayn verlor sein Augenlicht, er war auf beiden Augen blind. Den Weltkrieg hatte er unbeschadet überstanden, aber nun?

Die Chemnitzer Firma Germania zahlte keine Entschädigung, war doch der junge Ingenieur nicht vertraglich an den Betrieb gebunden. Seine langjährige Freundin, eine Lehrerin aus Frankenberg, heiratete den Blinden.

Eine kleine Erbschaft, damit wollte er eigentlich in die USA ausreisen, wurde nun zum Kauf eines Grundstücks und dem Bau eines einfachen Hauses in Loschwitz verwendet. Der Blasewitzer Architekt Erich Seefluth entwarf ein Haus im Bauhausstil. Die äußerst sparsame Bauweise, im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kamen fachfremde Arbeitskräfte zum Einsatz, hatte zur Folge, dass jahrelang Bausünden ausgebessert werden mussten. Die fast spartanisch anmutende Einrichtung entsprach den Bedürfnissen und Möglichkeiten des blinden Ingenieurs und seiner Ehefrau.

Häufig besuchte ich (der Autor) in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren den blinden Herrn, denn er stand mir als jüngster Bruder meiner Großmutter sehr nahe. Er, der sonst sehr sparsam war, schenkte mir ein Paar braune Schnürschuhe als Arbeitsschuhe. Die rissigen, mit eisernen Noppen beschlagenen französischen Militärstiefel, Jahrgang 1917, hielten allerdings nur wenige Wochen die Belastungen meines Baustellen-Arbeitsalltags aus.

Etikett des Soldats Wildenhayn. Foto: Archiv Griesbach

Etikett des Soldats Wildenhayn.
Foto: Archiv Griesbach

Reinhold Wildenhayn, der sich mir gegenüber nur vage über seine Jugendjahre in Frankreich geäußert hatte, war aber sein Leben lang von diesen Erfahrungen geprägt. Sparsamkeit, Bedachtsamkeit und das Bestreben nach einer fast allumfassenden Bevorratung des Zweipersonenhaushalts waren seine Lebensmaximen.
Noch einmal wurde er an seine kurze (aktive) Militärzeit bei den 241ern erinnert, als er 1935 vom Dresdner Polizeipräsidenten (im Auftrag des Führers) das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen bekam. Die fragwürdige Wert­schätzung der alten Kämpfer durch das NS-Regime diente der geistigen Vorbereitung auf einen neuen Krieg. Bereits 1933 hatte Adolf Hitler auf einer Veteranentagung in Ham­burg allen ehe­maligen Kriegsgefangenen den Frontkämpferstatus offiziell zugebilligt.

Der blinde Mann legte wenig Wert auf die fragwürdigen Ehrungen der braunen Herrscher. Der Propaganda der Nazis stand er abwartend-konzilant gegenüber.
Er besserte in den dreißiger Jahren das bescheidene Gehalt seiner Ehefrau durch Einkünfte als Vertreter für Schlesische Kohle auf. Dem blinden und immer freundlichen Herrn kaufte man wohl offensichtlich gern die hochwertige Kohle ab. Er hatte sich sein Leben organisiert, war viel unterwegs, kannte viele Menschen und viele kannten ihn. So machte er nach außen hin einen zufriedenen und fast glücklichen Eindruck. Seine Umgebung hatte sich auf ihn eingestellt, duldete seine Macken, seine Absonderlichkeiten, doch das zweifache Trauma konnte er wohl zu keiner Zeit ganz überwinden.

Reinhold und Elsbeth Wildenhayn mit Blindenhund Wolf, um 1959. Foto: Archiv Griesbach

Reinhold und Elsbeth Wildenhayn mit Blindenhund Wolf, um 1959.
Foto: Archiv Griesbach

Den zweiten, noch viel verheerenderen Krieg mit den furchtbaren Angriffen auf Dresden hat das Ehepaar mit geringen Schäden am Haus überstanden. In Westdeutschland lebende ehemalige Kameraden unterstützten ihn über Jahre hin großzügig mit im Osten Deutschlands begehrten Artikeln. Mit Hilfe der bald erlernten Brailleschen Blindenschrift notierte er verschiedene Gedanken, verfasste auch Schüttelreime, die leider später verloren gingen. Er besaß auch eine herkömmliche Schreibmaschine, die durch Markierung auf den Tasten dem Blinden das Maschineschreiben ermöglichte.

Vorleseabende mit Freunden des Ehepaars, Schallplattenstunden mit klassischer Musik, Theater- und Opernbesuche bereicherten die Mußestunden des kinderlosen Ehepaars.  Vier Jahre nach seiner Ehefrau, 1980, starb Reinhold Wildenhayn nach kurzer Krankheit in seinem Loschwitzer Heim auf dem Veilchenweg in Dresden.

Manchem Loschwitzer dürfte Reinhold Wildenhayn, meist gesprächig und in Begleitung seines Blindenführhundes, noch begegnet und in Erinnerung sein…

Gerd Grießbach

Literaturhinweis

  • Paul Knoppe, Dresden 1936:
    „Die Geschichte des Königlich-Sächsischen Reserve-Infanterie-Regimentes 241“
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Veröffentlicht unter Artikel aus der Print-Ausgabe, Der Elbhang-Kurier