Erinnerung an den Maler Gerhard Stengel

Am 13. Januar 2015 jährte sich der Geburtstag des Dresdner Malers, Grafikers und Pädagogen Gerhard Stengel zum einhundertsten Male. Ein nur äußerer Anlass, uns wieder dieses leidenschaftlichen Malers, seiner fein empfundenen Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, ihrer ästhetischen Schönheit und Ausstrahlung zu vergewissern.

Gerhard Stengel: „Abend an der Elbe“, 1958 Foto: T. Stengel/wikimedia, CC-BY-SA

Gerhard Stengel: „Abend an der Elbe“, 1958
Foto: T. Stengel/wikimedia, CC-BY-SA

Er schuf in großer Souveränität ein ernsthaftes, ausdrucksstarkes Mal- und Zeichenwerk, das sich fernab modischer Trends unter komplizierten historischen Bedingungen in der 2. Hälfte des 20.Jhs. in einer prägenden Bindung an Dresden und Ahrenshoop  und in einer ungemein lebendigen, aktiven „künstlerischen Landnahme“ auf fast allen Kontinenten entwickeln konnte. Er hat die Landschaftsmalerei in Zeiten der Vorherrschaft vieler abstrakter Kunstrichtungen oder der sozialrealistischen Genremalerei als zeitimmanenten Ausdruck überzeugend zu Akzeptanz und Anerkennung  verholfen. Mit seinen großen heimischen, wie fremdländischen Panoramen steht er in einer Reihe mit namhaften impressionistischen Malern von Max Slevogt bis Oskar Kokoschka.

Wie bei vielen Künstlern seiner Generation stand am Anfang seiner künstlerischen Entwicklung das solide erarbeitete Handwerk des Dekorationsmalers und das Meisterdiplom an der Leipziger technischen Lehranstalt, das ihm den Weg zur akademischen Bildung in Leipzig und Wien erschloss. Wenngleich er an der Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe eher zeichnerisch ausgebildet worden war, war sein Bestreben doch immer auf das Malerische orientiert. Diese Ausbildung im Grafischen Gewerbe aber macht verständlich, dass Aquarellkasten und  Zeichenstift seine bevorzugten Arbeitsmittel auf Studienreisen wurden und dass sie auch seine Arbeitsweise zum intuitiven Erfassen seiner Eindrücke in der Fremde bestimmten. Die an Leipzig anschließenden Studien an der Wiener Kunstakademie haben seine künstlerische Handschrift geformt, sein malerisches  Können wesentlich bereichert,  und über technologische Studien sein Verständnis für die Farbe als psychisches Ausdrucksmittel vertiefen können.

Dass Gerhard Stengel nach Abschluss seiner Studien seinen Lebensunterhalt als Lehrer für Kunst und Kunstgeschichte am Richard-Leibniz-Gymnasium Leipzig bestreiten musste, eint ihn mit vielen zeitgenössischen Malern, wie mit dem Dresdner Maler Herbert Vogt, der nach den Studien an der Dresdner Akademie an den Schulen Schloss Salem am Bodensee lehrte. Gerhard Stengel sah, wie Herbert Vogt, die Kunsterziehungslehre nicht nur als Broterwerb. Er wollte aus innerer Überzeugung jungen Menschen die Kunst über die Kunstgeschichte, aktiven Mal- und Zeichenunterricht nahe bringen. Diese mit voller Begeisterung wahrgenommene pädagogische Arbeit brachte ihm die Berufung an die Hochschule für Bildende Künste Dresden ein, wo er schon nach einer einjährigen Aspirantur eine Dozentur und  später eine Professur erhielt, die ihn bis zur Emeritierung an Dresden band. Beruf und Berufung, lehren und malen vermochte er so in Einklang zu bringen.

Gerhard Stengel: „Weiden am Bodden“, 1989/90 Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA

Gerhard Stengel: „Weiden am Bodden“, 1989/90
Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA

Der in seinem Atelier auf der Franz-Curti-Straße aufbewahrte künstlerische Nachlass bietet immer noch  eine unerschöpfliche Quelle für monografische und  thematische Ausstellungen, wie sie in diesem Jahr u.a. vom Kunstkaten Ahrenshoop vorbereitet wird.  Sie wird erneut die Möglichkeit bieten, sein Werk, das in den politisch brisanten und gesellschaftlich komplizierten Jahren der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstand, nicht aus den Augen zu verlieren und in das kulturelle Leben heute einzubringen. Wenn einzelne Werke in den zahlreichen privaten Sammlungen auch immer präsent sind, so ist doch die ausstrahlende Ambivalenz der großartig komponierten Ölgemälde, der farbsinfonischen  Aquarelle, der gezeichneten  und lithografierten Tagebücher und Reportagen in der ihnen innewohnenden Aussage als Zeitzeichen, nur auf solchen Ausstellungen wahrzunehmen.

Wir erinnern an die Gedenk-Ausstellung seines Werkes in der Galerie des sächsischen Regierungspräsidiums, 2005, die zuletzt noch einmal einen gültigen retrospektiven Einblick in sein umfangreiches Gesamtschaffen geben konnte. Sie gewährte einen umfassenden Überblick über sein Gesamtwerk und verwies noch einmal auf seine eindrucksvollen heimischen und exotischen Landschaften in der meisterhaften Beherrschung der Aquarellmalerei und der Lithografie. Zuvor hatte er selbst noch die umfangreichen Ausstellungen in der Villa Skell in Schmiedeberg und in den Räumen der Dresdner Bank gegenüber dem Kronentor des Dresdner Zwingers unmittelbar aus der Fülle seines Ateliers in Dresden und seines Sommerateliers an der Ostseeküste zusammenstellen und hängen können. Noch einmal bestimmte er selbst Gesicht und Aussage seiner Ausstellungen, formte er Rhythmik und Harmonie der Farbwerte der Bildwände. Überzeugend vermochte er so seine innere Sicht auf  Natur und urbanisierte Landschaft in diesen Ausstellungen  gewissermaßen als ein Gesamtkunstwerk darzustellen.

Diese Ausstellungen belegten überzeugend, dass Gerhard Stengel in der Tradition des bedeutenden Dresdner Landschaftsmalers Gotthardt Kuehl steht und dass er nach Kirchner und Kokoschka zeitgleich mit Bernhard Kretzschmar und  Ernst Hassebrauk genannt werden muss, weil er Dresden mit seinen architektonischen Schätzen von der Oper bis zum Albertinum neben den Elbhanglandschaften  in einer eigenwilligen und ganz eigenen expressiven realistischen Bildsprache als sein Credo einer urbanen Landschaft als Lebensraum darzustellen wusste.  Dass Gerhard Stengel auch gleichzeitig der  norddeutschen Künstlerkolonie Ahrenshoop verpflichtet ist, belegt die andere Seite seines Werkes, das ganz unabhängig von Dresden und auch von seinen Studienreisen von Sibirien bis Mexico, im Norden entstanden ist. Das von der Ostsee und der Boddenlandschaft umschlossene Fischland mit seinen Weitsichten und phantastischen Wettergebilden ist eine seiner wesentlichen künstlerischen Quellen gewesen.

Gerhard Stengel: „Dresdner Neustadt“, 1985 Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA

Gerhard Stengel: „Dresdner Neustadt“, 1985
Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA

Wenn wir seine großen Aquarellgemälde heute wahrnehmen – und sie hängen ja in vielen privaten Wohnbereichen – wird man feststellen müssen, dass seine Bildwelt  entschieden  von seiner inneren Bindung an sein Gegenüber bestimmt war, ähnlich seinem Verhältnis zum Porträtierten bei seinen Bildnissen. Die Art und Weise, wie er sich seinen Modellen näherte, war ganz und gar „altmodisch“. Seine Arbeiten lassen unschwer erkennen, dass die Idee der Gründer der Künstlerkolonien zu Beginn des Industriezeitalters, die Natur wieder als Lehrmeisterin anzunehmen und in den Freiräumen einer lichtdurchfluteten Landschaft das Natürliche und das Charakteristische zu finden, über alle Stilrichtungen der Moderne hinweg lebendig geblieben ist.

Diese seinerzeit befreiende Idee der Pleinairmaler  „vor Ort“ zu malen und so einen Ausweg aus der verkrusteten Ateliermalerei zu finden, fand in Gerhard Stengel einen überzeugten Verfechter in der Kunst der Gegenwart, die sich in vielfacher Hinsicht unter Eroberung  und  Zuhilfenahme neuer Medien wieder in das Atelier oder in das Laboratorium zurückgezogen hat.

Ein bis heute unentdeckter Schatz im Dresdner Atelier sind die in der frühen Such- und Wanderzeit gezeichnete und gemalten  „Künstlerpostkarten“. Diese postalischen  Lebenszeichen eines jungen  Malers sind nie veröffentlicht worden, aber sie haben ihren besonderen Reiz, weil sie die Adressatin – und das war seine Anne – an seinen Erlebnissen teilnehmen ließen. Diese überwiegend wirklich im Postkartenformat gezeichneten und mit Wasserfarben festgehaltenen Ansichten der hanseatischen Häfen oder der dörflichen Idylle in den vom Schilf umstandenen Anlegestellen mit den Fischerbooten, den Darstellungen des Strandlebens oder der Strandpromenaden sind beachtenswerte Zeitdokumente. Sie offenbaren zweifellos schon in den frühen 50er Jahren seine bis ins hohe Alter nie versiegende Lust am spontanen Erfassen des Alltäglichen und an der dann später folgenden Ausbeute, der künstlerischen Umsetzung im Großformat. Schon diese  Skizzen beweisen seine leidenschaftliche Anteilnahme an Allem was ihn umgab oder ihm auf seinen  Reisen entgegenkam, was entdeckt und hinterfragt werden wollte. Er wollte die Komplexität von Natur und Stimmung verstehen, um sie in seine Sprache umsetzen zu können. Er wollte Landschaft nicht kopieren, nicht abmalen, kein Abbild schaffen, sondern aus der vor ihm liegenden Natur und ihrer ihm entgegenkommenden Stimmung sein in ernsthafter Zwiesprache mit der Natur entstandenes eigenes Bild „herausreißen“, wie es einst Albrecht Dürer formuliert hatte, dessen Landschaftsaquarelle Gerhard Stengel einst  faszinierten und zum Vorbild wurden.

Horst Zimmermann

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