Glashütte. Wir schreiben das Jahr 1945 im April. Ein neunjähriges Mädchen packt eilig in ihren Puppenwagen Lebensmittel. So viel, wie er fassen kann. Die Mutter des Mädchens Christine ist zufrieden. Natürlich ist Glashütte nicht die nahegelegene zerbombte Großstadt Dresden. Dennoch ist die Familie nicht verschont geblieben.
Die Mutter ist mit Tochter und Sohn alleinerziehend, der Vater ist an der Front in Russland gefallen. Die drei verlassen ihr geräumiges Haus an der Straße gegenüber vom Glashütter Friedhof. Per Fuß geht es mit anderen Familien aus dem heimatlichen Glashütte in Richtung Altenberg.
Ein wenig Glück im Unglück ist es wohl, erst zum Ortsausgang löst sich das Rad von Christines Puppenwagen. „Als Kind empfindest du manches anders in schwierigen Situationen,“ sagt die 80-jährige Künstlerin rückblickend. Familie Wahl kommt bei Freunden in der Nähe unter. Das Haus ist voll belegt mit Flüchtlingen.
Christine Wahl zeichnet für mich in ihrer Blasewitzer Atelierwohnung ganz lebendig mit Bleistift den Fluchtweg von ihrem Glashütter Elternhaus „mit seiner besonderen Atmosphäre“ auf Papier. Ihr Vater war dort Grabbildhauer. Eine schwierige Zeit, dennoch hat sie trotz der turbulenten Nachkriegszeit den Schulbesuch nahtlos mit dem Abitur abgeschlossen, anschließend mit dem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden begonnen. Für sie wegweisende Professoren waren Hans Theo Richter, der seinen Studenten räumliches Sehen vermittelte, und Professor Max Schwimmer, von dem ihr „der lockere Strich“ gefiel und seine Art, auf dem Papier zu fabulieren. Studiert hat Christine Wahl mit Dieter Goltzsche und Werner Wittig. „Die waren schon immer gut,“ sagt sie.
Privat unterstützte sie als Kunststudentin ihre Mutter, die hatte die Grabwerkstatt anstelle ihres Vaters in Glashütte übernommen. Kommilitonen aus ihrem Studiengang halfen u. a. beim Schrifthauen und -vergolden.
Seit ihrer Studienzeit lebt und arbeitet sie in Blasewitz. Als Künstlerin hat sie ein besonderes Verhältnis zu Dresden und seiner Landschaft samt den Elbauen.
Eine ihrer ersten Studienreisen führte die frischgebackene Künstlerin nach Schweden (1961). Reisen u. a. nach Polen und internationale Pleinairs in Bulgarien (Widin) folgten. In der Berliner Druckwerkstatt bei Professor Herbert Tucholski und in Dresden bei Elly und Heinz Schreiter auf der Goetheallee lotete sie ihre grafischen Techniken, speziell Radierung und Lithografie, aus. Originellen Umgang mit dem Holzschnitt, „gleichsam Wilhelm Rudolphs Durchlichtung weitertreibend“, bescheinigte ihr Kunstwissenschaftler Diether Schmidt. Den Erpressungen der Auftragskunst und einen falsch verstandenen Realismus entzog sich Christine Wahl durch Anglistikstudium und Dolmetscherdienste zu DDR-Zeiten.
In ihrem Atelier hängt eine Aktzeichnung, die trotz des Liniengespinstes sehr malerisch wirkt. Als Besonderheit erwähnen möchte ich drei Originalgrafiken „Hommage für Johannes Bobrowski“, die 1993 auf einem Workshop entstanden sind.
Ihre sehr persönliche Sprache, ihr Umgang mit Licht und Schatten konnte sie in Umbrien (Italien) auf dem Papier vervollkommnen. Gärten aus Orvieto, sizilianische Landschaften, Häuser aus Ravello sind in ihrem Atelier zu bewundern. Christine Wahl ist künstlerisch immer noch aktiv.
Was wünscht sie sich zum 80. Geburtstag selbst? „Schaffenskraft und anregende Reisen in südliche Gefilde“.
Angelika Guetter, Juni 2015