Beitrag zur Chronik der 62. Grundschule und Oberschule Dresden-Loschwitz
Wenn ich zur Chronik der 62. Grundschule beitragen soll, so kann ich nur erzählen, was ich selbst erlebt und seit 1945 im Gedächtnis behalten habe. Merkwürdigerweise erinnern sich ehemalige Schüler, die ich fragte, nur an Vorkommnisse aus dem Leben ihrer eigenen Klasse, die aber für die Chronik belanglos wären. Auch Kollegen, die seit dem 01.09.1945 an dieser Schule tätig waren, haben viele, vielleicht interessante Tatsachen vergessen, weil zu viel hinter uns lag, zu viel Neues auf uns einstürmte, weil schrecklich unser Gedächtnis durch Kriegsfolgen aller Art gelitten hat.
Allein die Tatsache der Gedächtnisschwäche zwingt die Chronik der Schule nicht nur:
- Im Hinblick auf das Schulgebäude, auf die nähere Umgebung, auf den inneren und äußeren Schulbetrieb, auf irgend interessante Vorkommnisse äußerlicher Art zu betrachten, sondern auch
- psychische Geschehnisse, Tatsachen, Erfahrungen bei einzelnen Klassen, einzelnen Kindern, Kollegen und in der Gesellschaft zu überdenken. Da ich annehmen muss, dass über Punkt 1 bereits vieles aufgezeichnet wurde, folglich bekannt ist, will ich diesen Punkt kürzer behandeln.
Als der Schulbetrieb am 01. 09. 1945 unter Direktor Mehlhose begann, fanden wir, Schülerinnen und Schüler der Grund-, Mittel- und Oberschulen, der Schule entsprechend Lehrer, Studienräte und Dozenten, ein ziemlich beschädigtes Schulhaus vor. Die alte Schule an der Pillnitzer-Landstraße und die Turnhalle lagen in Schutt und Asche. Der Durchgang von der Pillnitzer-Landstraße zum Schulgebäude an der Albertallee musste verboten werden, weil Mauerteile der alten Schule einzustürzen drohten. Im neuen, dem jetzigen Schulhaus fehlten größtenteils die Fensterscheiben, Türpfosten waren ausgebrochen. Überall lagen noch Kalk- und Glassplitter herum, die noch vom Bombenluftdruck herum geflogen waren.
Nach einigen Tagen wanderte die Oberschule ins eigene Gebäude nach Blasewitz. Die Belegung unserer Schule wurde dadurch vereinfacht. Ein einfacher Stundenplan regelte allmählich den anlaufenden Schulbetrieb. Zunächst mussten Lehrer und Schüler helfen, damit das Schulhaus und auch das Schulgrundstück einigermaßen betriebsfähig wurden. Die offenen Fenster, die Doppelfenster standen noch auf dem Boden, wurden mit Pappe und Sperrholzplatten vernagelt. Als endlich Dachziegel ankamen, die oder jene Knabenklassen Ketten, um Tausende von Dachziegeln auf den Boden zu befördern, denn der Winter stand vor der Tür. Es war sehr ungemütlich im kalten, nassen und zugigem Gebäude. Als schließlich, ich dächte im zweiten oder dritten Jahr, also erst 1947/48, die Fenster verglast werden sollten, mussten wir Lehrer die Fenster entsplittern, das war eine für uns ungewohnte, harte Arbeit, wurde aber gern getan, denn alle sehnten sich nach geschlossenen Fenstern.
Furchtbar waren die ersten Winter 1945/46, 1946/47, 1947/48 und 1948/49, kein Holz, keine Kohlen, keine Heizung! Schlecht schließende, teils noch offene oder notdürftig vernagelte Fenster! Keine Doppelfenster. 6 Grad minus und noch darunter im Klassenzimmer! Und dazu der Hunger! Hunger nach Nahrung, nach Wärme, nach Ruhe, nach Frieden und nach Frohsinn. Meine Knabenklasse hatte Glück. Der Fleischermeister Martin am Körnerplatz stellte uns wöchentlich einige Male seine geheizte Wohnstube zum Unterricht zur Verfügung. In zwei Gruppen von je 19 Buben arbeitet wir von 9 bis 11 Uhr und von 11 bis 13 Uhr. Wir hockten zwar dicht gedrängt, aber warm und froh und haben oft herzlich gelacht.
Und was haben wir gearbeitet? Wir haben gerechnet und deutsche Grammatik, Wortbildung und Stilübungen getrieben. Anstelle von Biologie wurden die einheimischen Tiere beobachtet, das gab Stoff für Berichte und kleine Aufgaben. Der sich allmählich entwickelnde Verkehr am Körnerplatz, die Standseilbahn, die Schwebebahn, die Brücke, der Elbestrom, der warme Ofen, kurz alles wurde Anschauungsmaterial, wurde in seiner Entstehung, in seiner Wirkung untersucht, so dass gewissermaßen ein Objekt im Mittelpunkt des gesamten Unterrichts stand; kurz: Wir trieben zunächst Gesamtunterricht und hatten dabei genügend Gelegenheit, nationalsozialistisches Ideengut auszumerzen.
Und wie haben die Kinder gearbeitet? Wie war überhaupt das soziologische Milieu? Wie war die Stimmung in der Klasse, im Kollegium, bei den Studenten? Zunächst war besonders spürbar das Gefühl der Befreiung, frei zu sein von einem furchtbaren Alb, von der Angst vor Sirenengeheul, Bomben, Tod und Nazisten. Das zeigte sich bereits bei der Begrüßung in den ersten Schultagen, beim Sich kennenlernen, beim Wiederbegegnen mit totgeglaubten, in einer besonders herzlichen Form, im gegenseitigen Vertrauen, hilfsbereiter Zuvorkommenheit, in einer herzlichen Aufgeschlossenheit, wie man sie vorher nie gekannt oder vergessen hatte, obwohl Hunger, Ermüdung und körperliche Gebrechen die Arbeit an sich beschwerten und die Stimmung hätte drücken können. Unser lieber Direktor Mehlhose war außerdem ein ausgezeichneter, großzügiger und feinsinniger Führer, der es verstand, ein Kollegium zu schmieden, das Grundstock wurde für die Mentalität des Heutigen.
Nichts konnte die Arbeitsfreude untergraben. Und was hatten manche Kollegen für Schwierigkeiten zu ertragen und zu überwinden! Ein dunkles Loch zum Wohnen, eine Dachkammer in die es regnete, keinen Ofen, keine Feuerung, ausgebombt, ohne genügende Kleidung – aber alle hatten ein heiteres Herz voll Sehnsucht nach Frieden, einen eisernen Willen zum Wiederaufbau und Liebe zum Kinderherzen. Und unsere Kinder, die nach langer Zeit zum ersten Mal im geregelten Klassenverband zusammenstanden und ihren neuen Lehrer gespannt erwarteten, sahen ihn mit großen Augen an.
Mit stiller Freude denke ich an die Knabenklasse zurück, die ich 1945 in Loschwitz übernahm und vier Jahre führen durfte, die zur besonderen Übungsklasse für unsere Lehrerstudenten wurde, und wenn wir uns heute treffen, lachen wir noch gerne über manche köstliche Begebenheiten dieser Jahre.
Wir haben wirklich Freud und Leid miteinander geteilt. Wir haben im Unterricht gelacht, dass Tränen in die Augen traten, uns liefen aber auch vor Rührung die Tränen über die Wangen. Wenn dann die Aufsätze vorgelesen wurden, in denen die Buben erzählen sollten, was sie in der Brandnacht und bei anderen Bombenangriffen erlebt hatten, in der ein Junge lebhaft schilderte, wie er seine kleinen Geschwister aus dem brennenden Keller befreien half, wie er sich dabei Brandwunden zugezogen hatte, wie sie mit der Mutter durch brennende Straßen der Innenstadt geflohen sind, da blieb keine Auge trocken. Da trat die Angst wieder ins Kindergesicht, da sprachen sich Kinder frei, da sprach so viel Elend und Kummer aus der Kinderseele, dass die Tränen in die Augen traten. Der Vater war noch nicht zu Hause, war gefallen, vermisst, gefangen. Die Mutter war tot, mit Geschwistern verbrannt, ausgebombt, eine elende Wohnung, vertrieben, geflüchtet, nur geduldet. In der Familie des Jungen, der beim Geschwisterretten half, war solche Not, dass der Bub sich das Leben nehmen wollte. Ich habe drei Jahre mit diesen Kinde gewissermaßen gerungen, bis er von seinem Selbstmordgedanken frei wurde. Er gehörte zu den Kindern, die das Lachen verlernt hatten. Ja, es gab Kinder, die es kaum kannten. Also war es nötig, dass der Unterricht so fröhlich wie möglich gestaltet wurde.
Das war nur im Gesamtunterricht, im Unterrichtsgespräch möglich, bei dem das Kind mit seinen Gedanken frei zu Worte kam, bei dem sich die Kinder gegenseitig ereiferten, an gestellten Problemen aufrankten,bei dem sie selbst Probleme stellen durften.
Da war auch die Disziplin gut, denn echt jungenhafte Probleme: Brand des Dampfers „Dresden“ im Loschwitzer Hafen, Geschwindigkeiten beim Rodeln und vieles anderes mehr spornten die Fantasie an. Die Buben arbeiteten fröhlich mit, interessierten sich für vieles und regten zum Erzählen an. Nur eins war dabei schwierig: Unsere Lehrerstudenten konnten sich an derart freien Gesamtunterrichtsstunden nicht präparieren.
Unsere Loschwitzer und die einverleibten Wachwitzer Grundschüler waren an die Heimschule für Lehrerbildung in Wachwitz ausgegliedert, also sogenannte Übungsschulen. Die Anzahl der Professoren und Dozenten und Altlehrer als Mentoren, ebenso die zum Teil große Zahl Studierenden geht aus den Akten der Schulleitung hervor. Hier interessiert mehr ein kurzer Bericht an sich. Fast in allen Stunden waren Studenten anwesend, teils als Hospitanten, teils als Doktoranten, die durch Pflicht und Beurteilung des Präparatoren und Prüfungsarbeiten, ebenso die Leitung von Seminaren stellten an die Mentoren erhebliche Anforderungen und wer das neben der anderen Schularbeit getan hat, weiß, wo seine Kräfte geblieben sind. Und wie war hier das psychologische Milieu? Abgesehen von allem äußeren drum und dran, das die Kriegszerstörungen gezeigt hatten, waren noch andere Schwierigkeiten zu überwinden: Ungenügende Vorbildungen, sogar gegenseitiges Misstrauen zwischen Alt- und sogenannten Neulehrern, heimlicher Widerstand von Reaktionären, Verständnislosigkeit und Misstrauen bei den Eltern. Es war für unsere „Neulehrer“ – ein Begriff, der in unserem Gefühlsgehalt zu Unrecht gesunken ist – gewiss nicht leicht, sich gegen alle Anfechtungen zu behaupten. Unsere Neulehrer haben es aber – mit sehr wenigen Ausnahmen – durch großen Fleiß und bewundernswerter Treue und Ausdauer geschafft, und als Mitchronist der 62. Grundschule muss ich wahrheitsgemäß berichten, dass wir Altlehrer uns manchmal eingestanden, von denen können wir uns eine Stange abschneiden.
Aus dem Neulehrergrundstock in unserer Schule kommt auch unser Kollege Direktor Schoeps. Über schulbetriebliche Angelegenheiten, wie Einführung des Russischunterrichts und die dadurch verbundenen Schwierigkeiten, Einführung der Jungen Pionierorganisation, Einführung der Lehrpläne usw. kann er eingehend berichten.
Ich möchte zum Schluss nur noch über eine Begebenheit berichten, die schulgeschichtlich interessant ist. Über dem Eingang in unserer Aula hatten Loschwitzer Maler ein Fresko gestaltet, das nach Ansicht der Lehrerschaft und auch des Elternbeirates künftig nicht mehr tragbar war und bei der Renovierung des Festsaales entfernt werden sollte. In Loschwitzer Elternkreisen entstand scharfer Widerspruch, wie in einer Schillerschule, das Fresko huldige dem großen deutschen Dichter, die Personen auf dem Gemälde stellten Loschwitzer Einwohner dar, es sei Bilderstürmerei, unverantwortlich, den Loschwitzern ein Schlag ins Gesicht.
Ich dachte mir, einmal Kinder eines achten Schuljahres, eine sehr aufgeschlossene Klasse, vorurteilslos, ohne irgendwelche Erwartungen, darüber sprechen zu lassen. Wir gingen also in die Aula und betrachteten still das Fresko. Neben die Türpfosten waren an die Wand weitere Pfosten gemalt, die einen Sockel trugen, auf dem eine Schillerbüste im blühenden Parkgelände stand, sprechende Kinder und studierende Jugendliche mit ihrem Lehrer zu beiden Seiten der Büste gruppiert. Ich kann hier nicht über den Gang der Stunde berichten, nur das Fazit. Die Kinder sprachen sich frei aus: „Die gemalten Pfosten gehören nicht neben echte Pfosten“. Die Büste im Park auf dem Pfostensockel? Wir kamen dazu, dass einzelne Teile für sich wohl gut waren, dass das Fresko aber auf dem Sockel im ganzen nicht mehr Kunst zu nennen sei. Es entstand schließlich der Begriff „Edelkitsch“. Das Bild wurde mithin überstrichen.
Somit habe ich aus meinem Gedächtnis Geschehnisse aus dem Leben der 62. Grundschule in der Zeit vom September 1945 bis gegen 1950 berichtet, die möglicherweise in keiner Schulakte stehen können. Dabei sind Tatsachen aus meiner eigenen Klasse nur beispielhaft weil sich von ihnen aus Parallelen nach anderen Klassen ziehen lassen. Im Gespräch mit den Kollegen in den Konferenzen bestätigt sich das auch.
Zusammenfassend kann ich sagen, „So entsetzlich auch die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges waren, zerbrochen haben sie uns nicht. Wir bauen weiter auf und kämpfen für Freiheit, für ein geeintes und demokratisches Deutschland“.
Joseph Wagner