– aber auf dem Weißen Hirsch zu Hause
Glossierte oder nachfragende Herkunftsrecherche
Als J. F. Kennedy nach dem Mauerbau 1963 vor dem Schöneberger Rathaus ausrief »Ich bin ein Berliner!«, verstand jeder seiner Zuhörer und Adressaten, was gemeint war. Wenn ich mich – nunmehr in der Blasewitzer Tiefebene – zum »Gemarkungs-Loschwitzer« erkläre, ist das kein Signal an Immobilienhändler (die ihre Klienten den jeweiligen Grundbüchern zuordnen), sondern eine Reaktion auf unser neues Loschwitz-Buch. Dort wird uns unmissverständlich klargemacht, wo die ausgedehnte Gemarkung Loschwitz aufhört und der im Verhältnis kleine Weiße Hirsch beginnt. Und aus diesem kleinen Landstrich bin ich entsprungen.
Als meine Eltern 1947, lange vor dem Schengen-Abkommen, aus dem Erzgebirge kommend, mit meinen Geschwistern visafrei hierher zogen, hieß es bei unseren Verwandten: »Jetzt wohnt ihr im schönsten Dresdner Viertel« – das beförderte unser Selbstbewusstsein. Und dort haben wir uns eingerichtet – in der Schule, in der Kirchgemeinde, bei Freunden und Freundinnen, in Einkaufsläden (damals allerdings noch ohne WH-Apotheke), beim Volkschor, mit einer eigenen gemarkungsgrenzüberschreitenden Postleitzahl (seinerzeit mit der Zusatzbezeichnung »Bad Weißer Hirsch«), mit dem vornehmen Restaurant »Luisenhof« (mit dessen Besitzer Hansotto Voigt/Gemarkungs-Loschwitzer/ saß ich gemeinsam im Kirchenvorstand Weißer Hirsch) und … und …
Jetzt erst werde ich anhand der Gemarkungsgrenzen gewahr, dass ich in meinem Elternhaus in der Oskar-Pletsch-Straße nicht auf dem vermeintlichen Weißen Hirsch, sondern in Loschwitz groß geworden bin, und das in unmittelbarer Nachbarschaft der Villa »Karavelle«, der Keimzelle von Uwe Tellkamps »Turm«-Roman. War die renomierte »Turm«-Gesellschaft etwa eine Loschwitz-Weißer-Hirsch-Melange? Und hätte das an der Loschwitzer Plattleite gelegene Institut »Manfred von Ardenne« (dem ich Einiges verdanke) seine Gewerbe-
steuern besser in Loschwitz als auf dem Weißen Hirsch hinterlegen müssen? Darf ich meine ehemaligen Grundschulkameraden eigentlich zum Weißer-Hirsch-Klassentreffen einladen, obwohl mindestens die Hälfte nichtsahnend in Loschwitz gewohnt hat? Ohne dass wir es gemerkt haben, sind wir zu »les vagabundes entre deux mondes« (Wanderer zwischen beiden Welten – so hieß die Schicksalsnovelle von Walter Flex/1916) geworden und müssen vielleicht unser Selbst- und Ortsbewusstsein revidieren? Das wird schwerlich gelingen – und ist wohl im Globalisierungszeitalter auch nicht zu verlangen. Wir waren und sind einfach »Hirscher«, obschon wir etwas von Loschwitz und Bühlau und sogar von der Waldschlösschengegend gewusst und verinnerlicht haben. So bitten wir um Nachsicht, wenn wir uns nicht anhand der Gemarkungsgrenzen definieren, sondern unser »Heimatgefühl« sprechen lassen.
Studiert man »Loschwitz. Eine illustrierte Ortsgeschichte« von 2015, wird man gewahr, dass selbst der Terminus »Oberloschwitz« gefühlsmäßig umstritten ist. Die Gründerväter des »Verschönerungsvereins Weißer Hirsch/Oberloschwitz e. V.« lösten ihrerzeit das Problem elegant unter Vermeidung von Grenzstreitigkeiten. Wo aber fanden sich vor 200 Jahren die von Ludwig Uhland besungenen Jäger wieder, die einst »auf der Pirsch den Weißen Hirsch erjagen wollten – »… und eh’ die drei Jäger ihn recht gesehn, so war er davon über Tiefen und Höhn …«? Vielleicht sollten wir die »Zwanziger-.Jäger« befragen, nach denen die steile Zwanzigerstraße, einst die beliebteste Weißer-Hirsch-Rodelbahn, benannt ist – die liegt allerdings in der Gemarkung Loschwitz … »husch husch, piff paff, tra ra!« – so endet das besagte Uhland-Gedicht.
Mancher Leser wird fragen »habt ihr keine anderen Sorgen«? Natürlich, haben wir auch. Aber eine Frage bleibt noch: Gehören die vorstehenden Überlegungen nun ins »Kur- und Fremdenblatt« oder in den »allgemeinen Teil« des Elbhang-Kuriers oder gar auf die Internetseite – oder in den Papierkorb?