Carla Junge 1927 – 2016

Foto Carla Junge

Während der Gedenkfeier für Carla Junge auf dem Dresdner Theaterkahn erinnerte eine Photographie an die verstorbene Schauspielerin. Neben Friedrich-Wilhelm Junge ergriff auch OLKR i. R. Dr. Christoph Münchow das Wort.

Anlässlich der Gedenkfeier für die verstorbene Schauspielerin Carla Junge am 2. Juli 2016 auf dem Dresdner Theaterkahn hielt ihr Ehemann Friedrich-Wilhelm Junge eine Gedächtnisrede, die er freundlicherweise an den Elbhang-Kurier weitergeben ließ.

Am 20. März 1927 erblickte meine Frau Carla zu Oldenburg in Oldenburg das Licht der Welt. Sie war ein Frühlingsgeschöpf und wuchs als Einzelkind unter den Fittichen großzügiger und toleranter Eltern auf.

Nach dem Abitur nahm sie privaten Schauspielunterricht auf, musste das Geld dafür aber nebenbei selber verdienen – so lernte sie Stenographie und Schreibmaschine schreiben. Sie hatte zur Vermittlung an ein Theater keine Agentur, aber zwei ehemalige Mitstudenten gaben ihr den Rat, genau wie sie, sich an ein Theater in der DDR zu wenden – das war in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Problem.

Sie bekam ein Engagement am Theater Nordhausen und spielte dort, wie es im Fachjargon heißt: erstes Fach. Neben all dem unsäglichen Krimskrams eines 50er-Jahre DDR–Theaterrepertoires spielte sie unter anderem zwei Rollen, die zu Angelpunkten ihres Schauspiellebens wurden, die Desdemona in Shakespeares „Othello“ und die Königin Elisabeth in Schillers „Don Carlos“.

Im „Carlos“ gibt es gegen Ende ein Gespräch zwischen der Königin und Marquis Posa, der um sein Ende weiß und ihr sein Testament ans Herz legt, das sie weitergeben möge an den Thronfolger Don Carlos.

Dieser von Schiller formulierte moralische Auftrag gehörte für Carla und mich zum festen Bestand und zu einer Messlatte unseres Denkens und Handelns.


*Carlos mache –
O, sagen Sie es ihm ! das Traumbild wahr,
das kühne Traumbild eines neuen Staates,
Er lege die erste Hand an diesen rohen Stein.
Ob er vollende oder unterliege –
Ihm einerlei! Er lege Hand an.
Sagen Sie Ihm, daß er für Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte
Gerühmter besserer Vernunft das Herz
Der zarten Götterblume – daß er nicht
Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.

Und sagen Sie ihm, daß
Ich Menschenglück auf seine Seele lege.


In Nordhausen steckte sich Carla an und bekam eine Lungentuberkulose und kam für fast ein Jahr in eine Heilstätte. Danach lebte sie erst einmal wieder in Oldenburg bei ihrer Mutter, verdiente Geld im Arbeitsamt und spielte in Gastengagements in Wilhelmshaven und Lüneburg, vor allem aber am Staatstheater Oldenburg an der Niederdeutschen Bühne. So wie ich als Schweriner war sie als Oldenburgerin des Plattdeutschen mächtig.

Aber es kam schlimmer als zuvor – sie bekam eine Bauchfelltuberkulose, als die nach vielen Monaten ausgestanden war, hieß es wieder: Geldverdienen. Wie eine Ironie des Schicksals, sie war die rechte Hand eines Amtsarztes im Oldenburger Gesundheitsamt. Sie war dort gern und liebte die dort hinbeorderte kuriose Menschenwelt mit diversen Schicksalen, u. a. erzählte sie gern die Anekdoten der Damen des leichten Gewerbes, die allwöchentlich zur Pflichtuntersuchung kommen mussten. Doch – wer einmal Theaterblut gerochen hat, den zieht es wieder auf die Bühne.

Carla besann sich auf ihre guten Erfahrungen in der DDR, machte eine Vorsprechtour und wurde engagiert in Rudolstadt. Das war für uns das Urknalljahr 1960.

1960 machte ich meinen Abschluss an der Theaterhochschule Leipzig und war für die ersten beiden Jahre zwangsverpflichtet an das Theater Rudolstadt. In diesen beiden Jahren – zwischen 1960 und 1962 – habe ich in diesem winzigen Provinztheater mehr Kurioseres, Traurigeres, Absurdes, Komisches und Berührendes erlebt als in 20 Jahren Staatstheater Dresden.

Carla war damals eine 33-jährige vornehme schöne Frau, ich war ein 22-jähriger Anfängerspunt. Auf den Spunt hatten es drei Damen des Ensembles abgesehen. Carla hielt sich da raus und beobachtete das zum Teil aufdringlich turbulente Treiben sozusagen von einer Tribüne. Aber genau diese ältere Kollegin – gebildet, intelligent – interessierte mich. Wir haben in den zwei Jahren ja auch oft zusammen auf der Bühne gestanden. Aus einer Partnerin für Gedanken- und Meinungsaustausch wurde mehr, ich verließ mein möbliertes Zimmer und hatte meine Zahnbürste fortan bei Carla.

Es kamen die Theaterferien Sommer 1961. Carla fuhr nach Oldenburg in Westdeutschland zu ihrer Mutter, ich zu meinen Eltern nach Schwerin. Anfang August waren wir wieder in Rudolstadt. Am 13. August frühstückten wir- Carla hatte ein kleines Kofferradio – und da war die Rede von einem Mauerbau in Berlin.

Nach dieser Nachricht wussten wir nicht, wie wir reagieren sollten, es kam uns nur in den Sinn: das kann doch nicht wahr sein. Die Realität war kurz und knapp: Carla war eingesperrt. Über Jahre durfte sie nicht mehr nach Hause zu ihrer Mutter. Das hat uns noch weiter zusammengeschweißt.

1962 holte mich mein ehemaliger Rudolstädter Intendant nach Plauen – Carla durfte nicht mit, als ehemalige „Wessi“, wie wir heute sagen, war Plauen zu grenznah. Sie bekam ein Engagement in Altenburg – da war die Entfernung für uns erträglich. Jetzt wollten wir eine Familie werden, das heißt, es gab den Kinderwunsch. Carla war nicht mehr blutjung, wir haben alles probiert, es gestaltete sich schwierig.

1965 erhielt ich ein Angebot vom Staatstheater Dresden. Carla in Altenburg, ich in Dresden, Kinderwunsch – vergiss es. Für sie stand jetzt die Frage – Theater oder Kind.

Kind überwog, sie gab den Beruf auf und kam mit nach Dresden. Der Kinderwunsch endete 1966 in einer Bauchhöhlenschwangerschaft.

Ich spielte Theater, aber „rumsitzen“ und auf den Gatten warten, war nicht Carlas „Ding“. Sie suchte sich Betätigung – zunächst bei der Urania, die war ihr aber zu staatstragend nah, dann – bis zur Rente – und da mit vollem Engagement und gerne, halbtags im Hygienemuseum.

In den ersten Dresdner Jahren spielte sie – bei Bedarf – auch noch Rollen im Staatsschauspiel. Das alles genügte ihr nicht. Unser beider große Liebe und Leidenschaft war die Literatur, Literatur außerhalb des für das Theater Gestalteten. So erarbeitete sie sich – völlig autonom von mir – eigene Programme mit Partnern, die sie sich selber suchte. Auftrittsorte in diesen

DDR-Jahren waren zumeist kirchliche Räume. Da ging es auch nie um Geld, es war in der DDR wichtig, sich um die Freiräume zu kümmern, die außerhalb staatlichen Interesses lagen. Unter anderem war sie über Jahre in der Körperbehindertenschule Fischhausstraße und ergänzte den Deutschunterricht mit ihren Beiträgen und Gesprächen zu Literatur, die im Regelunterricht so nicht vorgesehen waren.

Ein Lebensabschnitt wurde noch einmal zu einer Außerordentlichkeit in unserem Leben – die 70er und 80er Jahre in unserer Wohnung in der Schevenstraße. Dort hatten wir viel Platz, d.h. es gab Raum genug für Begegnungen, Gespräche, Diskussionen aller Art, d.h. unsere Wohnung war der vor Abhörung und staatlicher Überwachung geschützte Raum. (Trotzdem fand ich in unserer Stasiakte Mitschnitte von Telefongesprächen.)

Wir haben uns dort Gedankenfreiheit und Fröhlichkeit nicht terrorisieren lassen vom DDR-Regime.

Meine Frau Carla war die wunderbar souveräne Grande Dame, die Seele des Ganzen, es war wie eine zweite Berufung: als Protagonistin in unserem – ja, wir bestanden zu DDR-Zeiten auf diesem konservativ besetzten Begriff: sie war Protagonistin in unserem „Salon“. In unserem geschützten Freiraum gab es Möglichkeiten u.a. während der Musikfestspiele oder des Palucca– Sommerkurses, die internationalen Stars privat und staatlich-unbelauscht zu empfangen. Carla sprach brillant englisch, aber auch mit polnischen, amerikanischen, tschechischen und – damals noch – sowjetischen Künstlern entstanden inspirierende Kontakte, die zum Teil bis auf den heutigen Tag reichen – und darüber hinaus.

1989 war dann der größte Vulkanausbruch in unserem Leben. Carla war montags auf der Straße – diese Tage und Monate haben unser Leben in nicht vorhersehbarer Weise, aber glücklich geführt: umgemodelt. Auch danach in Radebeul war Carla – in der sie umgebenden, geliebten und gepflegten Natur, umgeben von unseren Katzen, eine freundliche Gastgeberin, wenn es sich um inoffizielle Gespräche im Bereich Politik, Kultur und auch Religion handelte.

Sie war auch meine schärfste Kritikerin, einerseits war sie bereit, meine oft haarsträubend utopischen Gigantomanien – Marlowe „Faust“, Bulkakow, „Pilatus“ – gegen jeden Einwand zu verteidigen, andererseits haute sie auch  – zu Recht und mit Argumenten belegt – auf Schwachstellen meiner Unternehmungen ein.


Liebe Carla, Du warst mir eine Partnerin in allen meinen Lebenssituationen, mit all meinen Zumutungen und Eskapaden, du bist von der Geliebten über die Ehefrau zu meiner Freundin geworden. Wir Beide sind mit dem Wort „Freund“ – mit unserer norddeutschen Verwurzelung – sehr karg umgegangen.

56 Jahre nicht an der Seite eines Menschen – wir waren eine Mitte.

Meine liebe Freundin – wo auch immer – ruhe in Frieden.

(siehe auch ELBHANG KURIER Ausgabe August 2016, Seite 22: „Wir erinnern …“)

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