Walter Siegemunds Gedicht zu Weihnachten 2020
Ungehaltene Rede des ungehaltenen Nikolaus
Weihnachten 2020
Heut kam ich vergebens vom Walde her,
denn mit „weihnachten“ ist‘s nicht weit her.
Und wo sonst Leute beim Glühwein sitzen,
zeigen sich jetzt einsame kalte Pfützen.
Denn zu unserem großen Verdruss
regiert jetzt der Corona-Virus.
So wie er mir den glatten Reim verbaut,
hat er uns die Weihnachtsstimmung versaut.
Doch allmählich such ich nach Gründen,
die helfen, Weihnachtsfreude zu empfinden.
Ist es der leise rieselnde Schnee?
Gibts heut recht selten – also: ach nee!
Ist es der Stollen erst unterm Weihnachtsbaum?
Gibts schon ab September – also wohl kaum!
Ist es der Christbaum aus deutschem Wald?
Die dänische Nordmannfichte verdrängt ihn bald.
Sollte es der duftende Glühwein sein?
Das übersüßte Gebräu heute aus billigstem Wein?
Ist es das Lied vom Tannenbaum?
Im Warenhaus entgeht man ihm kaum.
Ist es der süße Weihnachtsduft?
Das Beatmungsgerät schafft immer mehr Kranken Luft.
Ists die Weihnachtsfamilie bei Kerzenlicht, freundlich und stumm?
Die Statistik spricht vom weihnachtlichen Familienkonfliktmaximum.
Erfüllen Geschenkberge den heimlichen Willen?
Nein, heute sind‘s kleine Corona-Spritzen und Pillen.
Und auch mein Erscheinen als Weihnachtsmann
ist etwas, was man leicht entbehren kann.
Ganz allmählich dämmert mir, wenn das Übliche entfällt,
was wirklich wichtig ist an der Weihnachtswelt:
Füllt nicht mit Talmi die Weihnachtstruhe –
Schenkt einfach einander Liebe und Ruhe!
Christen feiern, dass Weihnacht Gott uns Liebe schenkt –
wer‘s nicht glaubt, mag feiern, was er sich sonst so denkt!
Walter Siegemund