Leserbrief zum Tod von Ingrid Wenzkat

Marginalien zu Ingrid Wenzkat† von Bernd Lepsy

Bernd Lepsy mit Ingrid Wenzkat bei einer Vernissage im Stadtmuseum Dresden, 2016.
Foto: Antje Lepsy

Die Nachricht vom Tode der Kunsthistorikerin Ingrid Wenzkat veranlasst mich zu diesen Anmerkungen: Ich werde sie in zweierlei Hinsicht in bleibender Erinnerung und – wenn ich mir das erlauben darf – auch in meinem Herzen bewahren.

Erstens hatte ich das große Glück, sie als Lehrerin für Kunsterziehung in der damaligen Erweiterten Oberschule Dresden-Reick zu erleben. Zum Schuleintritt 1958 war sie 25, nur knapp elf Jahre älter als wir Pennäler. Ich sehe »Schuffi«, abgeleitet von ihrem Mädchennamen Schuffenhauer, noch lässig mit übereinander geschlagenen Beinen auf einer der ersten Bänke in ihrer Lieblingspose sitzen, was aus unserer Sicht natürlich die Proportionen ihrer Beine unterstrich. Der ästhetischen Erziehung hat das keinen Abbruch getan, es hat sie vielmehr eher gefördert.

Ich kann mich noch an eine heftige Diskussion mit »Schuffi« erinnern, bei der es um ein Plakat ging, das wir im Unterricht zu einer Theateraufführung in Dresden zu gestalten hatten. Ich hatte mich für das Volksstück »Nebeneinander« von Georg Kaiser entschieden. Kühn und kreativ, so wie sie uns das in jeder Kunststunde vorlebte, setzte ich neben einen weiblichen Halbakt einen zerlumpten Mann mit einer Krücke unter der Achselhöhle, das alles auf Format DIN A3. Meine erhaltene Note 2 statt der erhofften 1 empörte mich maßlos, doch »Schuffi« begründete sie damit, dass es 1923, dem Entstehungsjahr des Dramas, zwar Prostitution und Verelendung gab, ihr der inhaltliche Bezug zum Theaterstück aber zu allgemein war.

Unsere Kunsterziehungslehrerin war damals neben der Musiklehrerin, Frau Mann, und unserem Deutschlehrer, Dr. Günter Klieme, offenbar mitverantwortlich dafür, dass unser Mathe-Lehrer hin und wieder über eine »musisch verbildete Klasse« stöhnte. Auslösende Momente waren unter anderem solche Veranstaltungen wie die Aufführung der Schuloper »Die Werberbande« von Alan Bush oder die Aufführung von Szenen aus »Faust 1«. Im Nachhinein betrachtet, hatte der geplagte Mathe-Lehrer Recht, denn aus unserer Klasse gingen unter anderem die Schauspielerin Renate Blume, der Kunstwissenschaftler Dr. Fritz Jacobi, der Komponist Prof. Wilfried Krätzschmar oder der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Volker Riedel hervor.

Zweitens durfte ich nach meinem Studium mit der Kulturredakteurin Ingrid Wenzkat bei der Dresdner »Union« zusammenarbeiten; ausgelöst durch ein Gespräch mit meinem ehemaligen Klassenleiter Dr. Klieme am Rande einer Dichterlesung im Jahre 1975. Er beklagte dabei bitter, dass die »Unioner« ständig an seinen abgegebenen Manuskripten »herumschnipselten«, was er, als Meister des geschliffenen Wortes, nicht ausstehen konnte. Er war der Meinung, dass ich ab sofort seinen Part übernehmen und Beiträge zu anstehenden Gedenktagen von Dichtern und anderen Persönlichkeiten verfassen solle. Der nächste Termin, der 400. Todestag von Hans Sachs, war eine Vergatterung: Der brave Schüler von einst folgte seinem Meister. Der Gedenkartikel über Hans Sachs öffnete mir damals die Tür in eine Welt, der ich noch heute als Autor treu geblieben bin.

Wenn Ingrid Wenzkat Bedarf an Texten zu ganz bestimmten Themen hatte, meldete sie sich bei mir oder ich bot ihr Beiträge zu populärwissenschaftlichen Themen für die Wochenendbeilagen der »Union« an. Ganzseitige Beiträge wie »Hohe Gebäude im Wandel der Jahrtausende« oder »Probate Mittel gegen die Fliegenplage« waren genauso dabei wie Betrachtungen zum Thema »Was ist Glück«.

Ich erinnere mich an eine Episode von 1982. Als eine Seite zum Weltumwelttag veröffentlicht werden sollte, lieferte ich damals ein Feuilleton mit dem unverdächtigen Titel »Monolog eines Storches«. Besagter Storch flog also über die ländliche DDR, erst über einen kleinen Teich auf Loschwitzer Gemarkung, den er um einige Goldfische ärmer machte. Dann folgte ein Abstecher nach Mecklenburg. Dort beobachtete der Storch einen Agrarflieger, der irgendwelche Wildwuchsvernichtungsmittel über den weitläufigen Feldern versprühte und seine Düsen auch dann nicht abschaltete, wenn er über das Anwesen eines Bauern flog. Der Landwirt, der um seine Erdbeeren und Tomaten im Garten bangte, reckte daraufhin seinen Arm in die Höhe, ballte die Hand zur Faust und drohte dem Piloten heftig. Einem sozialistischen Agrarflieger – mit den besten Absichten für die Bevölkerung im Gepäck – zu drohen, das ging wohl gar nicht zu jener Zeit. Die Folge: Das Manuskript schlummerte ein Jahr lang in der Schublade, bis Ingrid Wenzkat einen günstigen Zeitpunkt im Folgejahr zur Veröffentlichung nutzte.

Meiner ehemaligen Kunsterziehungslehrerin und bis 1985 fordernde und fördernde »Vorgesetzte« in der »Union« begegnete ich zum letzten Mal während einer Vernissage im Stadtmuseum Dresden im Juni 2016. Sie fiel mir in der Menschenmenge wegen ihrer zierlichen Gestalt auf. Ihre Größe, was Weisheit, Kollegialität, Empathie und Liebenswürdigkeit angeht, bleibt mir allgegenwärtig.

Bernd Lepsy 
(von 1971 bis 1983 Lehrer in Loschwitz und Bühlau, jetzt Journalist i. R. in Baden-Württemberg)

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