Ein Theaterabend über einen abwesenden Antiquar ?

Unfrisierte Gedanken nach einer Dresdner Premiere

Als die unvergessene Traute Richter in den 70er-Jahren im »Kleinen Haus« Dresdens »Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe« (nach Peter Hacks) zelebrierte, blieb kein Theaterbesucher unberührt – und er war sogleich im Bilde.

Dietrich Buschbeck

Als unlängst im »Großen Haus« nach Ingo Schulzes Roman »Die rechtschaffenen Mörder« eine durchaus schillernde Uraufführung nach der Erwähnung eines ebenfalls »abwesenden Antiquars« ablief, hätte dem Publikum Einiges (fast Alles) erklärt werden müssen, um dem einleitenden Untertitel »Im Dresdner Stadtteil Blasewitz in der Brucknerstraße lebte einst ein Antiquar …« irgendwie gerecht zu werden. Blasewitz ist ja seit Friedrich Schillers »Wallenstein« mitsamt der gleichfalls unvergessenen »Gustel von Blasewitz« in die deutsche Literatur eingegangen. Ob den »rechtschaffenen Mördern« das auch beschieden ist, darf man fragen. Denn der einleitend apostrophierte „Antiquar“ Hans-Georg Kühnel (1927 – 94) kam auf der Bühne gar nicht vor. Diesen subjektiven Eindruck kann man angesichts dichterischer Freiheit als einen etwas kleingeistigen Vorbehalt deuten. Immerhin hat Ingo Schulze das Verdienst, mit seinem Einleitungssatz den großen und für Dresden wohl einmaligen Antiquar von »ehemals Carl Adlers Buchhandlung Nachf.« aus der Vergessenheit in die Gegenwart befördert zu haben.

Aber weder das stückeinleitende Maskentheater noch die verfremdenden Ballkleider-Kostüme, noch die ständig präzis eingeblendeten Video-Sequenzen vermochten es, die Voreingenommenheit (oder Befangenheit?) eines Zuschauers, der den besagten, deutschlandweit geachteten Antiquar noch leibhaftig wahrnehmen durfte, zu überspielen. Vielleicht hätte die transzendente »Bühnenmusik« des renommierten Ensembles »auditiv vocal« das schaffen können, wenn sie »helfend« und nicht nur »illustrierend« eingesetzt worden wäre …?
Auf der Bühne entfaltete sich indes eine kaum zu überbietende Turbulenz und Szenerie, die es selbst professionellen Rezensenten schwer machten, unbeteiligten Lesern den Theaterabend zu beschreiben. Ingo Schulze konnte krankheitshalber den offensichtlichen Publikumsbeifall nicht entgegennehmen, weder im Theater noch vielleicht »weit hinten in der Sächsischen Schweiz«, wohin er den fiktiven, »ökonomisch abgehängten« Antiquar gemeinsam mit der vermeintlichen Gefährtin verortet hatte. Den historisch belegten Antiquar (s. o.), der übrigens ein Singel-Dasein führte, zog es seinerzeit eher an die Mecklenburger Seen oder an seinen Wohnsitz am Borsberg. Aber auch diese Elbhang-Version blieb dem Publikum vorenthalten. Allerdings endete der Premierenabend auf offener Bühne mit einer diesbezüglichen Variante: Dem einst langjährig am Elbhang in Niederpoyritz wohnenden allseits geschätzten Professor (und Matgnifizenz) Dr. Joachim Mehlhorn wurde die Ehrenmitgliedschaft im Dresdner »Förderverein Staatsschauspiel e.V.« verliehen. So konnte jedermann zufrieden nach Hause gehen – »ein jeglicher in seine Stadt« könnte es in der Bibel heißen, aber von biblischen Weisheiten (von denen Hans-Georg Kühnel noch wusste) war an diesem Abend wenig zu hören oder zu sehen, eher von menschlichen Hoffnungen und Abgründen. Es ging ja um die Inszenierung eines Romans – sozusagen von »erfundener Wahrheit«, so war zufällig am Morgen nach der Uraufführung eine Sendung bei MDR Kultur überschrieben – allerdings in einem anderen Zusammenhang … .

Literaturhinweis:
Peter Richter, »Bücher als Lebensbegleiter – Ein Rückblick auf meine Antiquare in und um Dresden«
In: MARGINALIEN Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, Heft 242, September 2021
/ Veröffentlichung der Pirkheimergesellschaft (1946 in Leipzig gegründet)

Elbhang-Kurier April 2020 (Seite 6)
Blasewitz in der (Gegenwarts-)Literatur
Dichtung und Wahrheit – Zwischenruf zum aktuellen Roman von Ingo Schulze

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