»Zeigefinger in sächsischer Landschaft«
Juni 2024: Weg 10 »Delitzsch – Bad Düben«
von Dr. Michael Damme und Matthias Griebel
Grenzweg Nord – durchs Mühlenland
Es ist der 3. Oktober 2014, der Tag der Deutschen Einheit. Wie vor zwei Jahren haben wir bestes Wanderwetter und vor uns eine 22 km lange Strecke an der Grenze zu Sachsen-Anhalt gewählt. Aus dem Leipziger Tiefland geht es hin zur vereinigten Mulde am Rande der Düben-Dahlener Heide. Wir starten etwas verspätet in Dresden und biegen erst gegen 9:00 von der A14 auf die B184 Richtung Delitzsch ab. Kurz nach der Autobahnabfahrt sehen wir rechts einen Zeigefinger, einen Kirchturm, der uns neugierig macht. Über den Ort Rackwitz, wo eine preußische Postmeilensäule steht (1 preußische Meile = 7532,48 m), halten wir vor einer spätgotischen Dorfkirche im Ortsteil Podelwitz. Genau hier wurde die Grenze zwischen dem Kriegsverlierer Sachsen und den preußischen Gewinnern nach den napoleonischen Kriegen mitten durch das Kirchenschiff gezogen.
Die Folgen des Wiener Kongresses für das Land Sachsen:
Nach dem Sturz Napoleons versammelten sich die europäischen Fürsten und Staatsmänner vom 18.9.1814 bis zum 9.6.1815 zwecks der Neuordnung Europas unter dem Aspekt der Herstellung eines politischen Gleichgewichts, zum Wiener Kongreß.
Die ehemals Verbündeten Rußland und Preußen erhielten im Vertrag vom 1.10.1815 bedeutende territoriale Gewinne zu Lasten Sachsens: der Thüringer Kreis, der Kurkreis Wittenberg, die gesamte Niederlausitz und der östliche Teil der Oberlausitz wurden Preußen zugesprochen.
Sachsen verlor damit 58% seines Staatsgebietes mit 42% seiner Einwohner.
Auch verlor es seine Regentschaft im Großherzogtum Warschau an Rußland.
Österreich erhielt seine bis 1809 abgetretenen Gebiete zurück.
Aber das verkleinerte Königreich Sachsen blieb bestehen und König Friedrich August der Gerechte kehrte aus preußischer Gefangenschaft wieder nach Dresden zurück. Die Preußen vereinigten die neugewonnenen Gebiete einschließlich der dazugegebenen anhaltischen Fürstentümer zur Preußischen Provinz Sachsen, die im späteren Bundesland Sachsen/Anhalt nachklingt.
Gegen 9:30 erreichen wir Delitzsch und parken unser Auto auf dem Marktplatz und durchstreifen die wunderbar sanierten Gassen, versuchen in die trutzige Kirche St. Peter und Paul zu gelangen – vergebens. Zum Schluß noch ein Abstecher zum Barockschloß der Stadt, das in der freundlichsten Morgensonne liegt – herrlich. Auch der Rundgang durch das Schloßmuseum und der Aufstieg im Schloßturm war schon die Reise wert. 10:30 stellen wir unsere Fahrhilfe am Bahnhof ab und starten unsere Wanderung verspätet. Ich weiß, dass wir ein scharfes Tempo gehen müssen, um den Bus, der uns 16:45 zurückbringen soll zu erreichen. Meinem Kumpel sage ich nicht, dass es 22 km sind, sondern ca. 18 km, die wir vor uns haben – um ihn nicht zu verunsichern und die Freude an der Tour zu nehmen. Unter der Bahn-unterführung geht`s die Beerendorfer Straße durchs Neubaugebiet und am Stadtwald entlang, über den Stadtring und „An der Weide“ vorbei an Beerendorf – 2,7 km.
Stadt und Schloß Delitzsch:
Der Ort, namentlich aus altsorbisch delc`(Hügel) entstanden, hatte seit dem 10. Jahrhundert eine deutsche Burg. Nach 1200 beginnt sich eine Stadtanlage zu entwickeln, von deren Befestigungen des 14. Jahrhunderts Stadtmauern und Tortürme noch erhalten sind.
Große Verwüstungen erfolgten im 30-ig jährigen Krieg.
Mit dem Anschluß an das Eisenbahnnetz (1859 Leipzig – Dessau; 1872 Halle –Sorau) industrialisierte sich die einstige Bierbrau- und Textilhandwerkerstadt. Zu nennen sind die Zucker- und Schokoladenfabriken sowie die chemische Industrie.
Das Bild der historische Altstadt wird von drei Kirchen geprägt: die ev. Stadtkirche St. Peter und Paul am Markt, 1404 begonnen und 1437 geweiht, die ev. Hospitalkirche von 1516/18 und die ev. Pfarrkirche St. Marien aus dem 16. Jahrhundert.
Das Schloß von 1690/96 an Stelle des alten Castrum errichtet, war einst der Witwensitz der Linie Sachsen – Merseburg, im 19. Jahrhundert Frauengefängnis und ist heute ein Museum.
Die Gassen mit den verschiedenen historischen Wohnbauten, das klassizistisch-biedermeierliche Rathaus von 1849 sowie eine Postmeilensäule sind in der Stadt sehenswert.
Hinter dem Örtchen biegen wir an der Gabelung – gegenüber ein wunderbarer Blumen-garten – nach rechts auf einen befestigten Feldweg ein, der nach der Hälfte nach links schwenkend in einen befestigten Weg übergeht. Auf den Feldern werden gerade die Kartoffeln von 2 Bauern mit 2 Kartoffelvollerntemaschinen geerntet. Das hat vor 70 Jahren noch ein halbes Dorf verrichtet und ich sinniere im Geiste über das Thema Landflucht. Das jede negative Veränderung auch positive Wirkungen hat, begreife ich in den kommenden Kilometern. Nach 2.9 km erreichen wir den Sprödaler Wald. Der Waldweg biegt halbrechts ein. Nach 1,1 km kreuzt ein Weg den unseren. Wir biegen nach rechts und wenige Meter weiter nach links ein. Es geht schnurgerade durchs Trifftholz. Zwei Jogger sagen uns, dass man hinterm Wald über das Feld nach Wannewitz gehen kann. Auf Traktorspuren marschieren wir über das Feld, auf dem noch vorm Winter Futtergrün geerntet werden wird und erreichen nach 1,6 km Wannewitz. Hinter dem Örtchen, in Höhe einer Rasthütte – 0,5 km – biegen wir halb rechts in die grüne Flur ein und gehen entlang dem Rohrgraben durch eine gemischte Kultur-Naturlandschaft. Es ist absolut still. Wir stoßen auf einen Weg, den wir nach rechts gehen. Eine Frau, die auf einem Wehr steht fragen wir, wo die Werbeliner Bockwindmühle ist. Sie antwortet, dass der Fischmeister oben am Schadebachteich das Wehr zum Abfischen geöffnet hat und Ihre Schafe nun auf der Weide nasse Füße kriegen – kein Hinweis zur Windmühle. Übrigens neben den 2 Bauern, den 2 Joggern erst die 5. Person, die wir sehen. Das Dorf Scholitz – 2,5 km, in dem wir eine kurze Rast machen, kommt uns vor, als hätte es nie eine Wende gegeben – DDR-Flair überall. Die Dorfkirche lassen wir rechts liegen, biegen links ab und ein paar Meter weiter nach rechts und stoßen nach 0,3 km auf einen Feldweg (hier auch „Lutherweg“ genannt), der uns über ein Feld und schnurgerade durch die Prellheide 2,4 km bis zum „Grünen Haus“ an der B183a führt. Hier sind wieder mehr Menschen – im Auto. Über die Straße gehen wir durch den Schnaditzer Wald bis zur Bockwindmühle in Tiefensee 2,4 km. Ein Rentnerehepaar überholt uns mit batterieunterstützten Fahrrädern – es sind die Menschen Nr. 6+7 auf unserem Weg. Unweit der Mühle, im Nest Naschkau hatte ein Star des DDR-Schlagers der 60-iger Jahre seine Ausspanne – Bärbel Wachholz – ein Schwarm nicht nur meines Vater.
Hinter der Dorfkirche nach rechts durch den Schloßpark, dann nach links auf den Kohlhaas-weg bis nach Schnaditz in Höhe der Dorfkirche nach links zum trutzigen leicht verfallenen Schloß durch den Schloßpark bis wir nach 3,2 km auf den Damm stoßen, hinter dem die vereinigte Mulde friedlich dahin plättschert. Wir gehen nach rechts auf einem stillen Wiesenweg zwischen Mulde und Damm. Pssssst! Und ich zeige meinem Wanderfreund einen großen Vogel auf einer kleinen Insel in der Mulde, gegenüber dem „Roten Ufer“. In dem Moment erhebt sich ein mächtiger Seeadler und gleitet an uns vorbei. Was für ein Höhepunkt für die Wanderburschen. Aber auch mein Begleiter hat wenig später etwas ganz besonderes entdeckt. Eine dreistämmige Pappel, aus der ein vielstimmiges, lautes Gezwitscher tönt. Ja, das ist es – „Das singende klingende Bäumchen“ aus Kindertagen. Doch schlagartig – Totenstille – die Vögel haben einen Vogelkanzler, dem alle auf den Pieps gehorchen. Wir gehen weiter, und plötzlich löst sich mit großem Trara ein Schwarm von wohl 1000 Staren und verschwindet, einem Bienenschwarm gleich hinter dem Damm. Nun begreife ich, dass die Landflucht der Menschen in die Großstädte und Industriezentren des Westens ein bedauernswerter Prozeß ist, da damit eine Jahrhunderte währende Dorfkultur verloren gehen wird, aber gleichzeitig auch die Natur Raum und Stille zurück erhält, so dass wieder die Adler in Ruhe brüten können. Übrigens lebt hier an der Mulde die größte Biberpopulation in Sachsen. Am Altenhof vorbei erreichen wir die Leipziger Straße und nach 2,8 km entlang der Mulde überqueren wir diese über die Muldebrücke, wobei wir nach links noch einmal in Richtung des Adlers schauen. Rechts auf der Flußaue grast eine Herde Wasserbüffel – Sächs`sch is butz`sch! Nach 1 km über die Leipziger Straße und den Markt sind wir auf dem Paradeplatz, dem Ziel unserer Wanderung, wo die Disko gerade im Festzelt für das Feiertags-Tam-Tam einen Soundcheck macht. Mit dem Bus 196 fahren wir bis zum Bahnhaltepunkt Krensitz – da sagen sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ – und dann mit der privaten Regionalbahn bis nach Delitzsch zurück. In der Schloßschänke leisten wir uns ein paar Krautwickel, das gute Ur-Krostitzer Bier und noch ein paar Blicke auf das Schloß bevor es im Abenddunkel verschwindet. Mein Freund war genauso von der Wanderung in dieser Stille begeistert. „Und das waren nur 18 Km?“ fragte er. „Na ja, so cirka!“ antwortete ich.
Bad Düben:
Der Fischer- und Schifferort mit dem wichtigen Flußübergang über die Mulde, hatte bereits im 10. Jahrhundert eine deutsche Markgrafenburg.
Sie wurde 1450 gebranntschatzt, wieder aufgebaut und 1637 von den Schweden zerstört.
1663/65 erfolgte der Wiederaufbau und 1710 der Ausbau der Stadt in der heutigen Gestalt.
In der Stadtanlage befindet sich im Kern die romanische evangelische Stadtkirche St. Nikolai.
1810/14 wurde sie außen erneuert. Beachtenswert ist auch das Rathaus von 1716.
1846 erhielt die Stadt einen der ersten Kurparks Deutschlands und wurde 1915 Kurort eines Eisen-Moorbades. Die ehemalige Berg- und Schiffsmühle wurde 1967 als technisches Denkmal wieder hergestellt.