Teil 1: Die Entstehungsphase eines Chemie-Unternehmens und die Entwicklung der Tintenfabrik in Loschwitz
Alles dreht sich … Am Elbhang waren es über Jahrhunderte vor allem die Mühlen in den Gründen, die von den kleinen Flüssen, der Trille, dem Wachwitz-, Kepp- oder Meixbach gespeist wurden. Zumindest in zwei Fällen traten an ihre Stelle in der Mitte des 19. Jahrhunderts Unternehmen von beachtlicher Größe und hoher wirtschaftlicher Bedeutung. Im Helfenberger Grund entstand 1869 die chemische Fabrik von Eugen Dieterich (siehe EHK 2/2001) und in der Grundstraße die Fabrik „August Leonhardi – Chemische Fabrik für Tinten – Loschwitz bei Dresden”. Die „Tinte“ wie sie im Volksmund genannte wurde, war in ihrer Blütezeit eine international agierende Firma mit einer innovativen Forschungsabteilung und sehr modernen Werbestrategien. Ihre Geschichte wurde mehrfach dargestellt und weist doch erhebliche Lücken auf.
Am 20. Juni 1893 sinkt das Postschiff „Nordland“ im Porsangerfjord vor Norwegens Küste. Erst sechs Monate später kann man das Schiff bergen und es findet sich in der Fülle verwaschener Briefe ein lesbarer. Dieser war „eindeutig mit Alizarintinte aus den Dresdner Leonhardiwerken verfasst worden“, schreibt die Zeitschrift „Echo“ 1894. Nachrichten wie diese waren es, die Leonhardis Tinten international bekannt machten und die damit einen wahren Siegeszug um die Welt antraten. Firmen-Vertretungen gab es in Städten aller angrenzenden Staaten, aber auch in Kiew, Tiflis, Odessa, Hermannstadt, Pressburg und Budapest, Alexandria u. v. a. Hergestellt wurden „Schreibtinten von dokumentarischem Werthe für Behörden, solche für kaufmännische Buchführung und ferner Luxustinten für den Privatgebrauch, Kopirtinten für inländische und überseeische Korrespondenz, Hektopraphen-, Autographie-und Lithographie-Tinten, Zeichentinten, Aetz- und Signirtinten für allerlei Stoffe, Tuschen, Kopier-Stempel- und Schreibmaschinen-Farben aller Art, Tintenpulver und -Extrakte, Klebmittel aus flüssigem Leim und Gummi“.
Der Firmengründer Christian August Leonhardi wird am 29. April 1805 als Sohn des Professors für neue Sprachen Johann Christian Gottlob Leonhardi und seiner Frau Johanna Justine geb. Wangemann in Langensalza geboren. Er besucht die Fürstenschule in Grimma, wo sein Vater als Lehrer dient, und besteht mit 16 Jahren das Abitur. Er wird vermutlich Apothekergehilfe und erhält, vorerst für Freiberg, das Bürgerrecht. Am 1. Oktober 1826 heiratet er Auguste Agnesa Kotzsch (geb. 1808) in Deutsch-Luppa und ihr Sohn Eduard, der sich später als Kunstmaler und Loschwitzer Mäzen einen Namen macht, wird am 19. Januar 1828 geboren.
Noch im Jahr der Vermählung, mit 21 Jahren, wird Christian August Leonhardi „Kauf- und Handelsherr“ und gründet in Freiberg ein Geschäft für die Fabrikation von Parfümen unter seinem Namen. „Die Erzeugnisse des kleinen Betriebes erwiesen sich als gut, der Kreis der Abnehmer, die zufrieden waren und wiederkamen, wuchs…“ Als „weitblickender, thä- tiger und äußerst energischer“ Kaufmann wird Leonhardi in dieser Zeit beschrieben, der von 1844 bis 1846 auch Mitglied des Aufsichtsrates der „Sächsisch-Böhmischen Dampfschifffahrtsgesellschaft“ und von 1846 bis 1857 deren „berathender Direktor“ ist. Die Position führt dazu, den sächsischen König während des Mai-Aufstandes 1849 bei der Flucht auf dem Dampfer nach Königstein zu geleiten.
1847 erfindet Friedlieb Ferdinand Runge die Chromblauholztinte. Leonhardi, „der unter den ursprünglich zahlreichen Erzeugnissen seines Hauses … stets ein besonderes Interesse für die Tinte gezeigt“ hatte, experimentierte fortan, vermutlich bereits mit angestellten Chemikern, intensiv an einer Weiterentwicklung. Unbestritten hatte Leonhardi Kontakte zur Königlich-Sächsischen polytechnischen Schule in Dresden und deren Lehrer für Technische Chemie, Professor Wilhelm Stein. Gut möglich ist es, dass er neueste Erkenntnisse aus der heute als Technischer Universität Dresden bekannten Einrichtung schöpfen konnte. Er beantragt ein Patent und schreibt in der Begründung, seine Alizarintinte sei „frei von den Mängeln der alten trüben, dickflüssigen oft schleimigen Suspensionstinten“, und besitze „in solchem Grade bis dahin unbekannte werthvolle Eigenschaften, wie klarbleibende Lösung, außerordentliche Leichtflüchtigkeit, angenehme intensive Färbung beim Schreiben … und dauernde Beständigkeit auf dem Papiere, auf welchem sie ungleich fester als die alten Gallustinten haftet, da sie in die oberen Schichten desselben eindringt“. Besagter Professor Stein attestiert ihm den Antrag nach ausführlicher Begründung mit den Worten: „Nach diesem Allen trage ich daher auch kein Bedenken, die Alizarintinte des Kaufmanns August Leonhardi von hier für patentfähig zu erklären. Dresden, den 3. November 1855“.
Christian August Leonhardi war Chemiker und Kaufmann und besaß das Gespür für den wirtschaftlichen Erfolg eines bis dahin wenig beachteten Produktes. Mit dem Ende der Erprobungsphase und noch bevor das Patent 1856 bewilligt wird, kauft er sich 1854 das Grundstück der ehemaligen Vettermühle mit Silberschmiede auf der Grundstraße in Loschwitz. Die Familie zieht in ein kleines Landhaus am Raakeweg in Loschwitz, der heutigen Leonhardistraße. Er nutzt vorerst die bestehenden Gebäude der Mühle und baut erst 1862 das Wirtschaftsgebäude, Grundstraße 62, um. Christian August Leonhardi, der vor allem mit dem Patent den Grundstock für ein zukunftsweisendes Unternehmen legte, stirbt am 15. Januar 1865 und wird auf dem Inneren Neustädter Friedhof beerdigt. Seine Frau, Auguste Agnesa Leonhardi, wird die Geschäfte weiterführen. Sie kann sich schon damals auf fähige Mitarbeiter, so auf die Prokuristen Johannes Peter Schotel (Teilhaber der Firma von 1873 bis 1897) und Friedrich Hermann Reinhold, verlassen.
Mit steigender Produktion und der Erweiterung des Sortimentes wird das Werk in Loschwitz im Laufe der Jahrzehnte immer wieder erweitert und zu einem unübersichtlichen Bau-Konglomerat, vor dem auch die Feuerwehr warnen wird. 1870 werden Teile der alten Mühle abgetragen und neu errichtet. Der erste Dampfkessel wird eingebaut und ein Schornstein errichtet. Für Loschwitz, das Dorf der Romantik, bringt die Fabrik große Probleme. Die Wäscherinnen, so ist überliefert, müssen ihre Wäsche retten, wenn in der Tintenfabrik die Fässer ausgewaschen werden. Auch das Bleichen der weißen Sachen auf den Elbwiesen wird zum Problem, wenn der Wind den Ruß des Schornsteins in diese Richtung treibt. Es hagelt Eingaben in einer Zeit, wo Umweltschutz noch keine große Rolle spielt. Erst 1874 wird ein Kanal gebaut, der das Abwasser nicht in eine Kläranlage, jedoch direkt in die Elbe leitet.
Die Firma prosperiert und sucht immer neue Wege der Vermarktung, der Verpackung und der Werbung. Für die anfangs in Tonflaschen abgefüllte Tinte werden bald verschiedenste Formen von Glasflaschen benötigt. Um sich unabhängig von Lieferanten zu machen, kauft die Witwe Leonhardi 1872 eine kleine Glashütte in Schwepnitz. Auch dieser Betrieb wird zu einem stattlichen Werk und bis in die 1970er Jahre den Namen Leonhardi tragen. Am 10. Dezember 1875 stirbt auch die Frau des Firmengründers und der Sohn, Eduard Leonhardi, übernimmt die Unternehmungen. Der Professor und leidenschaftliche „Maler des deutschen Waldes“ hatte bisher wenig Bezug zu den Produktionsabläufen und überlässt weitgehend den Prokuristen und Werkleitern die Initiative. Kaum ein Antrag oder ein Brief, die heute in den Archiven liegen, wird seine Unterschrift tragen. In Loschwitz regelt Firmendirektor Oswald Schluttig die Geschehnisse. Eduard Leonhardi wird sich auf der heutigen Leonhardi-Straße 1875 eine Villa mit Atelier bauen und für Loschwitz als Stifter und Mäzen des Leonhardi-Museums, des Armenhauses (Schweizerhaus, Grundstraße 137), einer Kinderbewahranstalt (Grundstraße 36), der Ausgestaltung des Rathaussaales und zweier Kirchenfenster im Gedächtnis bleiben. In der Firma führt er 1883 eine Kasse für gegenseitige Hilfe in Krankheitsfällen, eine Art Betriebskrankenkasse ein, und 1901 gründet er eine Pensions-, Witwen- und Waisenkasse, die in Todesfällen Hinterbliebene unterstützen und die Rente aufbessern sollte. Die gute Geste des Inhabers wird in der Inflationszeit allerdings wertlos.
Die Produktion für Tinte ist in Loschwitz allein nicht mehr zu bewältigen. 1876 wird ein Zweigwerk in Bodenbach (heute Decˇin) errichtet. Ein Stammhaus folgt an der Antonstraße in Dresden-Neustadt. In Loschwitz wird derweil weiter umgebaut. 1884 wird das Kesselhaus für einen neuen Dampfkessel vergrößert und ein 20 Meter hoher Schornstein gebaut. Dem Gemeinderat Loschwitz, der für die Zeit Bauarbeiten an der Grundstraße vorsah, teilt Schluttig mit, „dass … ein neuer Dampfkessel für mich nach meiner hiesigen Fabrik vom Bahnhof Dresden Altstadt ab angefahren werden soll. Der Transport durch die Gemeinde würde bei Größe und Schwere des Objekts unmöglich gemacht werden.“ Der alte Hüttenturm der Vettermühle, eine Wahrzeichen der Grundstraße und im Scrafitto an der Haltestelle Steglichstraße verewigt, wird 1890 abgerissen und es wird ein neues Fabrikgebäude geplant. Die Gemeinde sieht in der ständigen Vergrößerung der Fabrik einen Eingriff in das Ortsbild, doch nach Einsprüchen des Bauherrn bei der Königlichen Amtshauptmannschaft müssen auch in Folge strittige Bauanträge meist genehmigt werden.
Der Großbetrieb spielt mittlerweile in einer Liga mit weltweit tätigen Unternehmen und hat bedeutenden Einfluss. Die Prokuristen und Direktoren vertreten ihre Interessen auch in höchsten Kreisen, heute würde man von Lobbyarbeit sprechen. Nachdem Untersuchungen der französischen Regierung bekannt wurden, Dokumente vor Vergänglichkeit und Fälschungsversuchen zu schützen, veranlasste die Firma Leonhardi die Regierung in Berlin, ebenfalls nach Lösungen zu suchen. Sie ersuchte um amtliche Grundsätze für die Prüfung von Tinten und ließ, natürlich von ihren Chemikern, Gutachten erstellen. Von der Firma selbst wird das Engagement als „Lösung kultureller Aufgaben zum Besten des Gemeinwohles von einem Gliede der Privatindustrie“ beschrieben. Im Ergebnis werden die Tinten Leonhardis für das Schreiben von Dokumenten empfohlen, was dem Werk wiederum enormen Prestige- und Produktionszuwachs einbringt.
Ein Umbau des Zwischengebäudes als Fabrikations- und Lagerraum erfolgt 1893 in Loschwitz und ein neuer 35 Meter hoher Schornstein entsteht 1898. Mit Erfindung der Schreibmaschine muss sich das Unternehmen umstellen. Die Produktion von Tinte geht drastisch zurück, jedoch entwickelt man sehr schnell hochwertige Schreibmaschinenbänder und mit ihnen eine neue grün-rote Alid-Marke als Erkennungssymbol. Stolz kann die Firma 1901 ihr 75-jähriges Bestehen feiern. Eine Festmappe mit einem Einführungstext und Photographien der Werke in Loschwitz, Bodenbach und Schwepnitz wird erstellt. Ein neues Füll- und Packgebäude wird an der Grundstraße eingeweiht und Jubiläumshaus genannt.
Quellen:
- Jubiläumsalbum „75 Jahre August Leonhardi – Chemische Fabrik für Tinten“; Leonhardi-Museum
- Gewerbeakte, Stadtarchiv Dresden
- Nachweisbare Bauvorhaben in den Grundstücken Grundstraße 62 und 64; Eberhard Münzner
- Familienarchiv Hilmar Dressler
- Sammlung Hagen Kreisch