„Denn was man nicht im Kopf hat, muss man im Munzinger haben”

Erinnerung an ein berühmtes Dresdner Archiv

Das Munzinger-Archiv oder kurz „Der Munzinger” wurde vor 83 Jahren in Berlin gegründet und ist seither für Journalisten eine wesentliche Recherche-Quelle. 1930 zog Familie Munzinger und das „Archiv für publizistische Arbeit” nach Loschwitz, in das Haus Plattleite 16, die heutige Weinleite 2. Hier bestand es bis 1945 und wurde danach in Ravensburg weiter geführt.

Ludwig Munzinger, der Sohn des Archiv-Gründers gleichen Namens, besuchte mit seiner Frau über Weihnachten die Familie seiner Tochter, Cornelia Munzinger-Brandt, die heute wieder im Haus an der Weinleite wohnen kann. Der Elbhang-Kurier nahm die Gelegenheit wahr, mit dem herzlichen alten Herrn, seiner Frau und Tochter zu sprechen. Da vom Großvater bis zum Gärtner alle ihre Lebenserinnerungen festhielten, liegt eine fast lückenlose Firmen-, Haus- und Familiengeschichte vor, die wir nur in Auszügen (auch in der nächsten Ausgabe des Elbhang-Kuriers) wiedergeben können. Mit diesem Beitrag gratuliert die Redaktion des Elbhang-Kuriers Ludwig Munzinger (junior) zu seinem 85. Geburtstag im Februar ganz herzlich.

Ludwig Munzinger, Senior Foto: Sammlung Munzinger

Ludwig Munzinger, Senior
Foto: Sammlung Munzinger

Sehr geehrter Herr Munzinger, Sie sind 1930 neunjährig mit Ihren Eltern nach Loschwitz gezogen. Können Sie sich an Erlebnisse Ihrer Kinderzeit erinnern?

In den ersten Dresdner Jahren, als noch das riesige Grundstück von 11.000 Quadratmetern bestand, war die noch ungeteilte Plattleite 16 ein ausreichender, sich nicht erschöpfender Spielgrund. Ich erinnere mich an Geburtstagseinladungen, bei denen wir den Zugang zum hinter der Standseilbahn liegendem Grundstück durch den Tunnel mit dem Wasserschlauch verteidigten mit dem Ergebnis, dass alle „Kombattanten” bis auf die Haut durchnässt waren.

Ludwig Munzinger, Junior. Foto: Sammlung Munzinger

Ludwig Munzinger, Junior.
Foto: Sammlung Munzinger

Wie gestaltete sich der Alltag und welche Beziehung bestand zu Ihrem Vater?

Das Zusammenleben wurde vor allem dadurch geprägt, dass die Mahlzeiten, soweit irgend möglich, gemeinsam eingenommen wurden, wobei sich nicht selten auch anregende Gespräche ergaben. Ich kann mich auch erinnern, dass man sich um fünf Uhr abends zum gemeinsamen Lesen historischer Romane zusammensetzte.

Was meinen Vater und mich verbunden hat, war das Interesse an Geschichte. Die 20 Bände Brockhaus meines Vaters waren für mich eine unerschöpfliche Quelle. Als ich in der Oberstufe im Realgymnasium Blasewitz, dem heutigen Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium, war, haben wir viel politisiert. Ich war natürlich in vielen Dingen anderer Meinung als mein Vater. Je älter man wurde, umso ernsthafter wurden die Gespräche. Mein Vater war kein Freund der Nazis, spätestens nach dem Rhöm-Putsch. Ich durfte daher am Anfang nicht in das Jungvolk und in die HJ. Im Gymnasium in Blasewitz gab es extra eine Klasse für etwa 20 Schüler, die nicht „organisiert” waren. Wenn beispielsweise Staatsjugendtag (Sonnabend) war, gingen die anderen in die Heide und unser kleines Häuflein ging ins Gymnasium nach Blasewitz, wo ein missmutiger Lehrer wartete. 1936 habe ich zu meinem Vater gesagt, ich wolle nun doch in die HJ. Er sagte, ich dürfe gehen, aber keinen Rang bekleiden. Wenn mein Vater von Lumpen und Verbrechern redete, wollte man das in dem Alter nicht hören. Man hat es leider erst viel später durchschaut.

Eine Geschichte meines Vaters ist da bezeichnend: Wir waren im Urlaub im Schwarzwald. Da rief die Sekretärin an und sagte: Es solle geflaggt werden, was sollen wir denn machen? Ein Wort meines Vaters war die Antwort: „Handtuchgröße”!

Zu Besuch im Haus seiner Kindheit kurz vor seinem 85. Geburtstag, Ludwig Munzinger (jun.). Foto: Jürgen Frohse

Zu Besuch im Haus seiner Kindheit kurz vor seinem 85. Geburtstag, Ludwig Munzinger (jun.).
Foto: Jürgen Frohse

Wie haben Sie als Kind die Arbeit Ihres Vaters erlebt?

Das Archiv in Dresden war viel kleiner, als es später, nach dem Krieg, in Ravensburg war. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren Teil der Familie. Kam Besuch ins Haus, empfing ihn die Sekretärin, eine Tante, die auch im Haus wohnte. Das Büro meines Vaters war gleich neben dem Wohnzimmer, und die Druckerei war im ersten Stock neben dem Bad und den Schlafzimmern. Oben schrieben drei Damen die Texte auf Metallmatrizen und zwischendurch liefen wir Kinder ins Bad. Einmal die Woche wurden die fertigen Briefe mit den journalistischen Blättern durch unseren Gärtner, Herrn Martin Herklotz, erst mit dem Auto, im Krieg dann mit dem Leiterwagen, zur Loschwitzer Post gefahren.

Woher bezog Ihr Vater seine Informationen in nationalsozialistischer Zeit, als auch Zeitungen „gleichgeschaltet” waren?

Er durfte die „Neue Züricher Zeitung” abonnieren, musste sich allerdings verpflichten, sie nicht anderen zum Lesen zu geben, was er natürlich doch gemacht hat. Und er hatte einen Außen-Mitarbeiter in Wiesbaden, Herrn Duderer.

Ludwig Munzinger im Garten seines Hauses Weinleite 2 mit den Zwillingen Gisela und Ludwig. Foto: Sammlung Munzinger

Ludwig Munzinger im Garten seines Hauses Weinleite 2 mit den Zwillingen Gisela und Ludwig.
Foto: Sammlung Munzinger

Sie waren als Soldat im Krieg, später in französischer und dann unglücklicherweise auch noch in russischer Gefangenschaft. Wie begann für Ihren Vater der Neuanfang in Ravensburg und konnte er auf den alten Bestand zurückgreifen?

Die Souterrain-Räume im Haus an der Weinleite waren größtenteils mit Archivmaterial gefüllt. Das musste er alles zurück lassen. Unser Gärtner, Martin Herklotz, war etwas ängstlich und hat vieles vernichtet, aber auch vieles in kleinen Paketen geschickt. Herr Duderer in Wiesbaden hatte ein komplettes Archiv und stellte es zur Verfügung. Nach dem Krieg bestanden viele Redaktionen nicht mehr und Kontakte mussten neu aufgebaut werden. Seiner Tochter sagte er damals, schreib doch mal an alle verbliebenen Redaktionen, ob sie weiter mit uns arbeiten wollen – und sie wollten. Das Munzinger-Archiv hatte einen guten Ruf und war das einzige seiner Art. Wir verbürgen uns auch heute noch für jede Information.

Urlaub für Cora und Ludwig Munzinger, um 1930. Foto: Sammlung Munzinger

Urlaub für Cora und Ludwig Munzinger, um 1930.
Foto: Sammlung Munzinger

Wie begann Ihr Einstieg in das „Munzinger-Archiv”?

Ich kam im September 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft und begann im November ein Jurastudium in Tübingen. Nach nur fünf Semestern schloss ich es ab, machte meinen Assessor, promovierte und arbeitete in einem Anwaltsbüro. 1952 brauchte mich mein Vater, er war bereits 75 Jahre, und ich begann im Archiv. Als er 1957 starb, übernahm ich endgültig die Geschäfte.

Frau Munzinger, waren Sie auch in die Firma involviert?

Ich war Lehrerin und zog danach meine Kinder groß. Als das jüngste Mädchen 14 Jahre alt war, sagte meine Schwiegermutter, Cora Munzinger: Ich bin 90 und das Finanzamt lacht, wenn ich immer noch die Buchhaltung mache. Da habe ich dann die Buchhaltung übernommen, mich aber auch für Werbung interessiert.

Gemeinsam auf den Spuren der Geschichte: Ludwig Munzinger (Senior und Junior) in Paestum, Italien. Foto: Sammlung Munzinger

Gemeinsam auf den Spuren der Geschichte: Ludwig Munzinger (Senior und Junior) in Paestum, Italien.
Foto: Sammlung Munzinger

Die Wochenlieferungen des „Archivs für publizistische Arbeit” waren in den folgenden Jahren wohl nicht die einzigen Aktivitäten. Welche Entwicklung nahm die Firma unter Ihrer Führung?

Die Anzahl und der Umfang der Biographien wurden erheblich vergrößert. Es wurde ein internationales Handbuch mit Informationen zu allen Staaten der Welt entwickelt – es fing mit zwei kleinen Ordnern an, dann waren es acht. Auch eine Sportredaktion bauten wir auf und Gedenktag-Listen erschienen.

Von dem Bauernhof vor den Toren der Stadt Ravensburg, wo nach 1945 angefangen wurde, war mein Vater in den fünfziger Jahren ins Hochhaus am Goetheplatz gezogen. 1970 konnten wir ein eigenes Büro- und Wohnhaus in Ravensburg einweihen. Damals hatten wir etwa 52 feste und freie Mitarbeiter. Mit der Einführung der Computer änderte sich die Arbeitsweise grundsätzlich. Um 1980 begannen wir mit einfachen Bildschirmtexten. Als mein Sohn, der Maschinenbau und Informatik studiert hatte, in die Firma einstieg, sagte er, „schmeiß doch die mittlere Datentechnik weg, die Zukunft hat der PC.”

Heute haben Zeitschriften-Redaktionen ihre eigenen Server, die per Datenleitung von unseren Mitarbeitern in Ravensburg gepflegt werden. Das Archiv ist aber auch für Abonnenten über das Internet nutzbar. Etwa 60 Prozent beziehen die Informationen noch über unsere Druckerzeugnisse. Unsere eigene Druckerei haben wir aber vor wenigen Jahren aufgegeben, eine digitale Druckmaschine erledigt heute diese Arbeit – es hat sich schon sehr viel verändert. Auch die Zeitungs- und Zeitschriften-Landschaft änderte sich ab Mitte der achtziger Jahre rapide. Die ganzen kleinen Zeitungen verschwanden. Wir begannen damals, unsere Arbeit für Bibliotheken attraktiv zu machen. Nach der Wende bin ich erst einmal in den neuen Bundesländern rumgereist, von Zeitung zu Zeitung, von Rundfunkanstalt zu Rundfunkanstalt. In Dresden konnten wir elf Stadtbibliotheken als Nutzer gewinnen, da freuten wir uns.

1995 bezog das Archiv ein neues Bürogebäude – der Trubel von Firma und Wohnung in einem Haus war uns zuviel geworden. Danach übernahm mehr und mehr unser Sohn Ernst die Führung.

Ludwig Munzinger (sen.) mit seiner Enkelin Cora bei der Gartenarbeit, um 1942. Foto: Sammlung Munzinger

Ludwig Munzinger (sen.) mit seiner Enkelin Cora bei der Gartenarbeit, um 1942.
Foto: Sammlung Munzinger

Die Familie Munzinger war in Loschwitz immer ein Begriff, doch an der Weinleite verfiel das Haus. Wie kam es, dass Sie nun, nach so vielen Jahren, hier bei Ihrer Tochter Weihnachten feiern können?

Das Haus wurde nie enteignet, aber ein Beschluss der Stadt Dresden aus den achtziger Jahren machte ein langwieriges Rückübertragungsverfahren erforderlich. Die Bausubstanz war nach der Wende in einem schlechten Zustand, allein hätte ich mich darum nicht kümmern können. Ohne die tatkräftige Mitwirkung meiner beiden, damals in Berlin lebenden Töchter und ohne die unermüdliche Unterstützung meiner Frau, wäre das Haus vielleicht nicht in dem heutigen Zustand. Es hat mich mit großer Freude erfüllt, als sich meine Tochter dann entschloss, mit ihrer Familie nach Dresden zu gehen. Wir selbst haben uns eine kleine Wohnung eingerichtet, wo wir uns sehr wohl fühlen. Seit der Wende waren wir bereits 90 mal in Dresden, häufig in Begleitung von Freunden.

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