Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, durch Verstand wird es erhalten. Sprüche Salomos 24,3
Am 13. Februar 1945 und am folgenden Tag wurde Dresden in Schutt und Asche gelegt. Tausende Tote und Verletzte. Ruinen, soweit das Auge blicken konnte. Keiner hat es verhindert! Zu spät! Der noble Stadtteil Weißer Hirsch blieb verschont, damals. Heute? Heute verfallen Häuser, werden Ihrem Schicksal überlassen, werden langsam zu Ruinen. Keiner verhindert es? Schon wieder zu spät? Meine Eltern, die Schwester und ich wohnten in der Altstadt, Rosenstraße, auch dort bin ich geboren. Wir wurden beim ersten Angriff total ausgebombt, verschüttet, von Helfern befreit durch den Notdurchbruch ins Nachbarhaus. Wir konnten nur das notdürftig bekleidete nackte Leben retten, Vater und Mutter waren verletzt, ohne Hab und Gut. Doch, es mag seltsam klingen, hatten wir auch Glück, beim zweiten Angriff wären wir sicherlich nicht mehr herausgekommen.
Die Flucht ging über mehrere Stationen. Den Rest der Nacht haben wir in der brennenden Stadt verbracht. Am Morgen dann zum Großvater nach Löbtau. Tage darauf ins Erzgebirge zur Mutters Verwandtschaft. Kriegsende dann im unbesetzten Schwarzenberg – Stollberger Gebiet. Im Sommer ging es zurück nach Dresden. Auf den Weißen Hirsch! Am Parkhotel vorbei, rechts Richtung Bühlau. Unsere neue Wohnung, eine Villa. Das Grundstücks-Tor, zweiflüglig, geschwungene Schmiedekunst; mit einem Trick konnte man es ohne Schlüssel öffnen. Das imposante Gebäude mit edler Innenausstattung, getäfelt, möbliert, zwei Zimmer mit Veranda, geteilte Küche – wir waren nicht allein – und eine Mutter, die häufig zu uns Kindern sagte: Macht ja nichts kaputt. Es war wie ein Besuch bei Fremden. Der Besuch dauerte auch gar nicht lange, im späten November ging es zurück ins Erzgebirge.
Die Jahre vergingen, man hatte andere Sorgen. Es kam der Tag, als man begann Fragen zu stellen und kaum noch einer da war, der sie beantworten konnte. Auch die Dresdner Historikerkommission legte ihren Bericht vor. Wie war das mit dem Weißen Hirsch? Wer hat uns diese Bleibe vermittelt und warum sind wir wieder weg? Und dann im Internet: Arno Schellenberg wohnte nach 1945 in der Villa? Es waren noch andere Orte in der Stadt, die mich bewegten. Auch hier suchte ich. Ein Pfarrer meiner Taufkirche, der Annenkirche, hat Augenzeugen gebeten, das Erlebte aufzuschreiben. Sie tun es nicht, weil sie keine Worte finden, um das Erlebte zu schildern. Was damals geschah, sind Erlebnisse, die sich im wahrsten Sinn des Wortes eingebrannt haben. Die Historiker, die es nicht erlebt haben, sagen wie es wirklich war und arbeiten mit Akten. Viele Dresdner, die damals betroffen waren und davongekommen sind, sie sind verletzt, weil sie nicht ernstgenommen werden.
Und jetzt das große Schweigen. Die Kommission hat diesen Dresdnern einen schlechten Dienst erwiesen. Auch ich arbeite mit Akten, ungern, denn nach meiner Aktenlage bin ich gar nicht existent. Im Mai 2010 fuhren wir, mein Sohn, die Enkelin und ich, nach Dresden. Ich wollte ihnen mal „meine“ Villa zeigen. Dresden, Weißer Hirsch, Bautzner Landstraße 46 / Ecke Fischerstraße, geplant nach Google und GPS. Ich war schockiert, das Eingangstor fehlte, stattdessen alles mit Brettern verschlagen. Die Natur hatte schon durch Grünes verschämt fast alle Sicht aufs Haus versperrt. Ist das die richtige Adresse? Fast hätte ich mich blamiert. Erst dann von hinten, die Veranda, dann noch einmal nach vorn, am Torpfosten stand „Haus Schellenberg“. Schon wieder ein neuer Name, ich war auf „Turmeck“ eingestellt. Schellenberg war mir ein Begriff, wir waren richtig. Das ganze Gebäude ein trauriges Elend, nichts gesichert. Das war schon fast eine Ruine. Mein Entsetzen legte sich erst dann, als ich am Zauneck ein Schild sah: Denkmalgeschützte Villa mit überklebtem „VERKAUFT“. Ich dachte: Nun kümmert sich wenigstens jemand, es kann nur besser werden.
Neulich erfuhr ich, das Haus würde weiterhin verfallen und dass wohl bald der Abriss kommt. In meiner persönlichen Geschichte bin ich nicht weiter gekommen, mein Rätsel konnte ich noch nicht lösen. Aber auf dem Weg dahin habe ich über die einstmaligen Bewohner dieses Hauses viel erfahren. Aus dem bisherigen Ergebnis komme ich zu dem Schluss und muss eindeutig und mit aller Eindringlichkeit sagen: Ich warne davor, mit dem Gebäude leichtfertig umzugehen.
- Das Haus steht unter Denkmalschutz aus architektonischen Gründen. Es wurde 1884 in den Gründerjahren erbaut, später auch ausgebaut und als Besonderheit mit einem Fahrstuhl ausgerüstet.
- Dieses Haus ist jedoch auch ein großer „Stolperstein“. Es war stark mit jüdischen Bürgern verbunden, war auch im jüdischen Besitz (ich sah sie noch in Dresden, die Juden, markiert mit dem gelben Stern). Anderenorts gibt es Stolpersteine zum Gedenken. Ich mag sie nicht – erst stolpern, dann gedenken. Das man sie auch mit Füßen tritt, ist nicht zu vermeiden. Dieses Haus ist ein großer Stolperstein und lässt sich nicht mit Füßen treten.
Es gab Frauen, die Besitzer des Hauses waren und deren Leben in Theresienstadt ausgelöscht wurde.
Es gab Frauen, deren jüdische Männer ins Exil nach Südamerika gingen (Konzertmeister Leonid Striemer). - Dieses Haus ist jedoch auch ein „Stummer Zeuge“ der Geschichte – Geschichte auf dem Gebiete der Kunst (Musik, Theater), Technik und Industrie und der Politik.
Unter anderen waren Besitzer und Bewohner oder hatten eine Bindung zu dem Haus:
- Kammersänger Arno Schellenberg
- Kaiserlich-Königliche Hofschauspielerin Maria Lichtenegg (Behrens)
- Schauspielerin Manja Behrens (von Appen)
- Operettensängerin Renate Behrens (Schellenberg)
- Bühnenbildner Karl von Appen (Pablo Picasso meinte, er sei der Beste seines Faches in Europa)
- Fabrikdirektoren: Marwitz, Werminghoff
- Jurist, Prof. Dr. Hermann Kastner, Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Stellvertretender Ministerpräsident der ersten DDR-Regierung unter Grotewohl
Ich wollte diese Zeilen nicht schreiben. Nicht so und auch nicht jetzt. Erst dann, wenn ich ein vollständiges Ergebnis meiner Suche habe, wollte ich berichten. Doch, wenn alles weggerissen würde, der „Stumme Zeuge“ nicht mehr steht, dann wäre es sowieso zu spät. Darum sage ich jetzt für den „Stummen Zeugen“, da er nicht sprechen kann: Bitte kümmert Euch um mich, reicht mir Eure pflegende Hand! Mit diesen Zeilen danke ich Allen, die meine Neugier verstanden haben und mir halfen.
Dieter Escher